Dienstag, 24. Dezember 2024

An Heiligabend

"Ach ja - es ist Weihnachten", dachte ich, als ich durch die verschneiten und überaus kitschig dekorierten Straßen ging. Ich hatte mit diesem Fest nie viel am Hut, für mich war das ein Tag wie jeder andere. Ich habe keine Familie, die meisten meiner Freunde schon. Also ignorierte ich in der Regel, dass überall leuchtende Tannenbäume standen und belagerte Holzhütten, in denen Glühwein angeboten wurde.

Für den alten Mann an der Ecke war es vermutlich auch ein Tag wie jeder andere. Seit knapp einer Woche saß er dort auf seiner Decke, zunächst im Staub des Bürgersteigs, seit heute im Schnee. Er tat mir leid, aber ich hab's selbst nicht so dicke, also tat ich, was die meisten machten. Ich ging an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten.

Als ich den Kragen meiner Jacke hochzog, um wenigstens ein bisschen die Kälte abzuhalten, musste ich plötzlich daran denken, dass ein alter Mann, der im Freien übernachtet, sicher noch mehr fror als ich. Es war schon spät, die Läden machten gerade zu, auch Verkäufer haben Familien und Weihnachtsbäume. Keine Chance also, dem frierenden Kerl einen Kaffee und ein belegtes Brötchen zu kaufen. Ich ging zurück zu der Decke, auf der ich den Alten in der Dämmerung und dem Schnee kaum ausmachen konnte.

"Hier, Kumpel", sagte ich, nachdem ich ein paar Münzen aus der Hosentasche gekramt und ihm in die Hand gelegt hatte. "Ist nicht viel, aber mehr hab ich gerade nicht." Er sah zu mir hoch, seine Falten über dem weißen Vollbart verrieten, dass er trotz seines traurigen Daseins nicht selten lächelte. Auch jetzt zeigte er ein verschmitztes Grinsen, das nach Dankbarkeit aussah, nach Ehrlichkeit und seltsamerweise nach Güte. "Ich weiß", sagte er, "das macht dein Geschenk so wertvoll."

Woher wollte er wissen, dass mein Jahr nicht gerade das beste gewesen war? Naja, so ein alter Kauz hat sich bestimmt mit Glühwein aufgewärmt und ist ein bisschen senil. Ich nickte ihm zu, drehte mich um und stapfte auf dem inzwischen menschenleeren Fußweg durch den dreckigen Schnee. Plötzlich hörte ich etwas, eine Art Klingeln. Wie Glocken oder so. Als ich zurück zu dem alten Mann sah, war da nur noch seine schmutzige Decke.

Dann bemerkte ich, dass das Klingeln von oben zu kommen schien. Ich blickte hoch zum Himmel und was ich dort sah, würdet ihr mir ja doch nicht glauben. "Ach ja", dachte ich. "Es ist Weihnachten."

Samstag, 21. Dezember 2024

Wort zum Sonntag

In der besinnlichen Vorweihnachtszeit - konkreter: diese Woche - habe ich mal wieder etwas dazugelernt. Jeder Mensch hat ja ein gewisses Wertesystem, eigene Grenzen, eventuell auch (wörtlich) Vorurteile, unterschiedliche Erfahrungen und so weiter.

Und obwohl ich schon viele Winter erlebt habe, gibt es ganz offensichtlich noch immer Dinge, die ich in mein System nicht einordnen kann. Für die meine Lebenserfahrung nicht ausreicht, um sie zu begreifen.

Ich habe vor einigen Tagen von einem der unfassbarsten Verbrechen erfahren, von denen ich je gehört habe. Mein Wortschatz reicht nicht aus, um einerseits eine Frau zu ehren, die praktisch ihr komplettes Leben offenbart, um anderen Frauen Mut zu machen. Und andererseits meine Verachtung für Lebewesen auszudrücken, die jenseits von allem sind, wofür ich Abneigung empfinden kann. Die in mir Scham auslösen, derselben Spezies und demselben Geschlecht anzugehören.

Gestern Abend dann geschieht etwas, an das wir uns leider fast gewöhnt haben. Zunächst überrascht, dass der mutmaßliche Täter Arzt ist, sogar Psychiater. Heute dann erfahren wir, dass er nicht wie erwartet Islamist ist, sondern offenbar ein Rechtsextremist mit einem Faible für die größte faschistoide Partei der Republik. Offenbar ist das Leben doch komplexer als die strikte Schwarz-weiß-Aufteilung in sozialen Netzwerken. Offenbar haben wir vergessen, dass es Arschlöcher in allen Farben gibt.

Und dann noch ein Gedanke: Refugees welcome - ganz klar und erstmal ohne Einschränkung. Hunger ist so tödlich wie Krieg, niemand will sterben. Aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass wir als Gesellschaft und als politische Einheit es nicht hinkriegen, ein Zusammenleben aller Menschen zu gestalten. Und mit "wir" meine ich die Menschheit. Oder anders: Weder will ich in einem rassistischen, von Nazis regierten Land leben noch will ich mich unwohl fühlen, wenn ich abends durch die Straßen gehe. Schutzzäune um Veranstaltungen lösen genau so Beklemmung aus wie Springerstiefel- oder Leerdenker-Demos.

Ich hab's ja nicht so mit Weihnachten. Aber nächste Woche mal drei Tage darüber nachzudenken, was das große Wort Frieden wirklich bedeutet, ist vielleicht eine ganz gute Idee. (Sorry für mein Wort zum Sonntag.)

Freitag, 29. November 2024

Familienstreitigkeiten

Hattet ihr schon mal Familienstreitigkeiten am Kaffeetisch über Nichtigkeiten? Also nicht über Politk oder das Klima oder Corona. Auch nicht über das Erbe von Oma Hildegard. Sondern über Kinkerlitzchen?

In meiner Verwandtschaft gab es einige Themen, mit deren Erwähnung man bürgerkriegsähnliche Zustände auslösen konnte. Meine Mutter und ihre Schwestern gehörten einer Generation an, die auf Schulbildung für Frauen keinen großen Wert legte. Sie hatten alle die "Volksschule" in ihrem ländlichen Stadtteil besucht, wo ein stramm doitscher Lehrer vier Klassen gleichzeitig unterrichtete. Manches von dem, was er den Kindern beibrachte, war schlicht Blödsinn.

So glaubten meine Tanten, die historische Zeitlinie beginne im Jahr 1, mit der Geburt Christi. Ich habe tausendmal versucht, ihnen klarzumachen, dass selbige im Jahr 0 verortet wird und man von vor und nach Christi Geburt spricht. In ihrer Welt existierte vor Marias mysterlöser Niederkunft nichts. Sie wussten nichts über die Urzeit oder die Antike. Selbst mein Einwand, dass weite Teile der Bibel ja davor spielen, die drei Könige offenbar schon da waren und irgendjemand die verschissene Krippe gebaut haben muss, sorgten allenfalls für Verwirrung statt Verständnis.

Die diskutable Bildung der betagten Damen war für sie unantastbar und stellte eine Geschichte dar, die ein Jahr nach Jesus' Geburt mit seiner Geburt begann und in der es vorher entgegen aller Logik einfach nichts gab. Adam, Eva, Saurier, Mammuts, das Alte Rom und das ebensolche Griechenland wurden zwar irgendwie als gegeben hingenommen, aber nicht in das für tausend Jahre zementierte Halbwissen integriert, das der linientreue Fingerklopfer ihnen einst eingetrichtet hatte. Man ahnt, wie Diktaturen funktionieren.

Jedenfalls: Wenn mir beim Geburtstagskränzchen langweilig wurde, brachte ich das Gespräch gerne mal auf den Geschichtsunterricht anno Tobak, lehnte mich zurück und genoss das Chaos.

Donnerstag, 14. November 2024

Ruhiges Landleben

Dass mein Nachbar nebenan in seinem Alter noch sehr fit ist, freut mich für ihn und seine Familie. Schon beeindruckend, mit welcher Wucht der Mittsiebziger sein Beil auf das Brennholz krachen lässt, damit er und seine Ehegattin es gemütlich warm haben im Eigenheim. Fast genau so freue ich mich für den Nachwuchs der Familie, die gegenüber wohnt. Der Teenager feiert gern, lädt sich Freunde ein und hat eine gute Zeit mit viel Gelächter und lauter Musik. Prima, er soll sein Leben genießen, man ist ja nur einmal jung.

Das mit der Freude gilt auch in der Lebensphase der betagten Witwe, die einige Meter die Straße runter wohnt. Dass ihre Verwandten sie oft besuchen, wärmt einem richtig das Herz. Da ist immer was los, jede Menge spielender Knirpse, bellende Hunde, man tobt sich aus. Wenn nicht gerade Kinder und Enkel zu Besuch sind, sorgen fleißige Handwerker dafür, dass das Haus der guten Frau in Schuss bleibt. Es wird gehämmert und gebohrt, im Namen von Werterhalt und Wirtschaft.

Da schließe ich mich selbstverständlich gerne an. Die Ruhe auf dem Land ist ein Mythos, der endlich ein Ende haben muss. Für mich ist ab und an etwas Stubenmusik die perfekte Zerstreuung. Ich spiele übrigens Schlagzeug.

Donnerstag, 31. Oktober 2024

Happy Halloween

"Aber... ich hatte doch keine Brille auf." So lautete die Reaktion eines 51-jährigen Mannes, nachdem die Polizei ihn verhaftet hatte. "So etwas habe ich noch nie gesehen", gibt der Polizeisprecher zu Protokoll. Dem Vernehmen nach habe der Beschuldigte in der Dunkelheit eine große Gruppe verkleideter Kinder für echte Zombies gehalten.

Er sei eher still und pflege wenig Kontakt zu seinen Nachbarn. lassen diese wissen. Auf die Frage, ob es sich bei dem Mann um einen typischen freundlichen Dorfbewohner handele, der stets höflich grüße, antwortet einer von ihnen: "Höflich auf jeden Fall. Freundlich ist ja immer Ansichtssache."

Für ihn stelle sich nun die Frage, wer für die Straßenreinigung verantwortlich sei. "Wir wussten nicht mal, dass er überhaupt Gartengeräte besitzt", sagt der Nachbar - ein Geistlicher im Ruhestand - über die Tat. Der Beschuldigte habe häufig T-Shirts mit unchristlichen Bildern und Symbolen getragen und sei stets in schwarzer Kleidung zu sehen gewesen.

Auch der Bürgermeister sieht sich am Tatort um. "Ich dachte, hier wird gefeiert", sagt der Rathauschef im spontanen Interview. "Naja, zumindest hat die Gemeinde nun genug Kita-Plätze."

Freitag, 25. Oktober 2024

Pianomann

Es ist Samstagnacht, die Woche vorbei

So langsam wird es hier voll

Wie der alte Mann, der schon seit halb drei

Neben mir sitzt und vor Alkohol

Er sagt: "Kleiner, kennst du dieses Lied?

Hab's schon ewig nicht mehr gehört

Es ist traurig und so schön, dass man niederkniet

Spiel's für mich, wenn's dich nicht stört"

La, la-la, di-dee-da

La-la, di-dee-da, da-dum

Spiel uns ein Lied, du Mann am Klavier

Spiel uns ein Lied heut Nacht

Wir sind alle allein, darum sind wir hier

Das Leben hat uns so gemacht

Karl an der Bar ist ein Freund von mir

Er schenkt mir immer mal ein

Er hat Sprüche drauf, trinkt selber gern Bier

Doch auch er fühlt sich allein

Er sagt: "Kumpel, demnächst ist es soweit

Dann laufe ich einfach davon

Und werde berühmt, denn dann kommt meine Zeit

Ja, darauf freu ich mich schon"

Oh, la, la-la, di-dee-da

La-la, di-dee-da, da-dum

Dort hinten sitzt Paul, der schreibt schon seit Jahren

An seinem ersten Roman

Und er quatscht grad mit Udo, seinem einzig wahren

Freund, der kommt auch nicht voran

Und die Kellnerin spricht von Politik

Und der Manager wird langsam breit

Ja, bei allen hier trübt sich schon der Blick

Das ist besser als die Einsamkeit

Spiel uns ein Lied, du Mann am Klavier

Spiel uns ein Lied heut Nacht

Wir sind alle allein, darum sind wir hier

Das Leben hat uns so gemacht

Freitag, 18. Oktober 2024

Kennste, kennste?

Beim (unabsichtlichen) Studium der Kommentare auf Facebook erscheint mir eine Haltung besonders interessant: Es gibt Männer (ganz sicher als Mann gelesene Personen), die ein großes Problem damit haben, dass es Frauen (als Frau gelesene Personen) gibt.

Dafür sollte man natürlich Verständnis haben. Ist ja auch ganz schön kompliziert und anstrengend, wenn man nur ein sehr kleines Gehirn besitzt und daher außerstande ist, die Welt zu verstehen. Da erscheint einem bestimmt alles bedrohlich.

Ich stelle mir dann immer vor, was geschieht, wenn diese Typen versehentlich mal auf eine Frau treffen. Die Gefahr, dass das passiert, ist nicht zu unterschätzen: Vermutlich gut die Hälfte der Menschheit besteht aus Frauen oder als Frau gelesenen Personen. Das macht den Alltag zum Spießrutenlauf.

Gut, den Verkauf von Backwaren lassen die Jungs sicher noch durchgehen. Dieses Thema fällt immerhin im weitesten Sinne in den Bereich der Lebensmittelherstellung und gehört somit zu den Tätigkeiten, die sie selbst Frauen zutrauen.

Aber was, wenn auf dem Amt, gar in der Kfz-Werkstatt oder - nicht auszudenken - beim Arzt eine Frau für ihre Belange zuständig ist? Am Ende sogar noch eine, deren Aussehen und/oder Nachname impliziert, dass ihre Vorfahren eventuell nicht in Deutschland zur Welt gekommen sind? Ich habe eine Hoffnung...

Dann fahren die Schwachköpfe nämlich wenigstens nicht auf öffentlichen Straßen herum, kommen aber wegen Steuerhinterziehung in den Knast oder landen in der Klinik. In jedem Fall haben sie Ärger und vermutlich keine Zeit für Facebook.

Mir als altem, weißen Hetero-Cis-Mann tun sie damit einen großen Gefallen.

Sonntag, 13. Oktober 2024

Im Wohnzimmer

Zum ersten Mal bei ihr zu Hause. Schicke Wohnung. Dass sie Musik liebt, wusste er ja schon. Immer spannend, die Plattensammlung anderer Leute zu durchforsten. Ihr Hund ist etwas lästig. Er schiebt ihn zum wiederholten Mal mit dem Bein weg, ohne ihn anzusehen. Das Schnüffeln nervt ihn. Feuchter Atem am Oberschenkel. Ganz schön groß, das Vieh.

"So, ein ganz normaler Kaffee, wie gewünscht", sagt sie und lacht, als sie ins Wohnzimmer kommt und hinter sich die Tür schließt. Sie stellt das Tablett ab und er setzt sich neben sie auf die Couch. "Und was machen wir jetzt?", fragt sie. "Einen Film gucken?" "Das wäre eine Möglichkeit", antwortet er. Immerhin ist der nervige Hund weg.

Langsam neigen sich ihre Köpfe zueinander. Beide schließen die Augen. Plötzlich ein Scharren an der Wohnzimmertür. In der Nähe der Klinke. Wirklich ein Riesenvieh, denkt er. Ein Knurren ist zu hören. "Tja, ich glaube, dein Hund will rein."

Sie erstarrt und blickt entsetzt auf die geschlossene Tür, hinter der nun ein lautes Kratzen zu hören ist. Langsam bewegt sich die Klinke nach unten und sie öffnet sich quietschend einen Spalt. Feuchter Atem ist zu riechen. Ihre nächsten Worte wird er nie wieder vergessen.

"Ich habe keinen Hund."

Dienstag, 1. Oktober 2024

Das Alter

Ich bin so alt, dass das Baby, dessen Foto eine besoffene Rocksängerin hochgehalten hat, gerade Mutter geworden ist.

Ich bin so alt, dass der Vater dieses Kindes der Sohn des Mannes ist, den ich aus Videospielen kenne.

Ich bin so alt, zu meiner Zeit war Puff Daddy ein Künstlername ohne realen Hintergrund.

Ich bin so alt, dass mein Celebrity Crush inzwischen alternde Mütter spielt.

Ich bin so alt, in meiner Jugend konnte Godzilla zwar nicht rennen, aber dafür war sein Feuerstrahl auch nicht pink.

Ich bin so alt, dass ich noch weiß, was das für ein komisches Quadrat ist, mit dem "speichern" symbolisiert wird.

Ich bin so alt, dass ich noch Elektronik-Abteilungen in Kaufhäusern besucht habe.

Ich bin so alt, dass meine Lehrer recht hatten, wenn sie sagten, wir hätten nicht immer einen Taschenrechner dabei.

Freitag, 20. September 2024

Am Graben

"Verdammt", fluchte er. "Das Ding sitzt bombenfest, da ist nichts zu machen." Zornig warf er das Stemmeisen auf den Boden, ging einen Schritt zurück und betrachtete ärgerlich die Zugbrücke.

"Du hast das doch selbst installiert", sagte die Stimme. "Warum beschwerst du dich jetzt?"

"Das weiß ich auch", antwortete er. "Eine Weile war das alles ja gut und richtig. Aber so langsam..."

"So langsam was?", fragte die Stimme. "So langsam fühlst du dich einsam?"

"Du bist mir keine große Hilfe", knurrte er. Großflächig sprühte er die Zugbrücke mit WD-40 ein und zog mit aller Kraft daran. Aber sie bewegte sich keinen Zentimeter.

"Vielleicht solltest du aufgeben", sagte die Stimme. "Oder fällt dir etwas Besseres ein?"

"Langsam fängst du an, mich zu nerven", flüsterte er. Dann ging er einige Meter nach hinten und blickte entschlossen auf den Burggraben. Er dachte an die Krokodile und Haie, die darin schwammen. Er selbst hatte den Graben ausgehoben und sie hineingelassen.

"Was hast du denn nun vor?", fragte die Stimme. "Das kann nicht funktionieren."

"Ich bin nun mal ganz schlecht im Aufgeben", sagte er. "Und wer bist du überhaupt?"

"Ich bin die Stimme", sagte die Stimme. "Die Stimme in deinem Kopf. Mehr ist dir nun mal nicht geblieben."

Er nahm Anlauf und lief auf den Graben zu. So schnell er konnte. Als er mitten im Sprung war, wusste er, dass er die Stimme nie wieder hören würde. Dass er endgültig allein war. Und es bis zur anderen Seite schaffen musste.

Freitag, 13. September 2024

Über Meinungen

Kommt ihr noch mit? Ich nicht. Natürlich will ich am liebsten niemanden diskriminieren, ausgrenzen oder falsch behandeln. Aber ich schaffe es nicht. Jeden Tag ein neues Problem, das dringend diskutiert werden muss. Tausend Perspektiven, die ich einnehmen soll. Ungezählte Seiten, auf die ich mich zu schlagen habe oder auf keinen Fall schlagen darf.

Ich hab nicht mal eine hundertprozentige Haltung zu Luke Mockridge oder Dave Grohl. Etliches ist mir egal. Weil mir das alles zu viel wird.

Ich hab's generell eher nicht so mit Menschen, aber ich behandele alle weitgehend gleich, verachte Rassisten, Nazis und vergleichbares Gesocks mit jeder Faser meines Seins und wünsche mir Weltfrieden und eine gesunde Natur. Ich trenne Müll, fahre möglichst wenig Auto und behandele alle Leute erstmal freundlich. Reicht das nicht notfalls?

Irgendwie sind wir doch alle (Rand-)Gruppen. Vielleicht versuchen wir's mal gemeinsam. Und stören uns zwischendurch nicht an allem und jedem, sondern lassen a) auch mal was aus und b) andere Meinungen gelten (außer s.o.).

Schreibt ein alter, weißer, überhaupt nicht reicher Hetero-Cis-Mann ohne Religionszugehörigkeit und Anspruch auf Perfektion.

Montag, 9. September 2024

Ist es ein Vogel? Ist es ein Flugzeug?

Habt ihr euch mal überlegt, wie es wäre, Superkräfte zu haben? Ich hab da mal realistisch drüber nachgedacht. Nehmen wir an, diese radioaktive Spinne beißt mich. Für mich als Arachnophobiker grundsätzlich keine so ganz angenehme Vorstellung.

Aber was hätte ich davon? Und was der Rest der Welt? Ich hab ja immer noch Höhenangst. Also ist es völlig egal, dass ich jetzt an Wänden rumlaufen kann, denn mehr als ein paar Zentimeter wären nicht drin. Und ich könnte auch nicht lässig von Hochhaus zu Hochhaus schwingen.

Zum einen müsste man die Statik vielleicht nochmal durchrechnen, aber zum anderen wäre es schon ein bisschen uncool, wenn dabei alle meine Angstschreie hören. "Oh, da oben ist Spider-Man!" "Hilfeeeeeeeee..!"

Mal abgesehen davon wohne ich ja durch den Spinnenbiss nicht automatisch in New York. Und wir haben hier auf dem Land etwa null Wolkenkratzer. Gut, das löst mein Problem mit der Höhenangst. Ich latsche und hüpfe also zu ebener Erde und bekämpfe das Verbrechen. Blöd nur: Auch das haben wir hier nicht.

"Sie stehen unberechtigt auf einem Behindertenparkplatz! Fahren Sie sofort weg oder ich werfe diesen… Altkleider-Container nach Ihnen!" Ganz schön beeindruckend. Dass ich theoretisch an Häusern krabbeln könnte, würde ich einfach verschweigen. Und mein Wappentier wäre auch sicher nicht sowas Fieses wie eine Spinne. Vielleicht eher Fuchs oder so. Die hüpfen auch nicht.

Das mit dem sechsten Sinn wäre ganz praktisch. Allerdings auf Dauer vielleicht etwas anstrengend, falls er bei jedem AfD-Wähler anschlägt. Ich würde also durch die Botanik latschen, kleinere Vergehen verhindern und ab und zu einen Traktor aus dem Graben ziehen. In einem schlecht sitzenden Fuchskostüm.

Und das Schlimmste: Aus großer Kraft folgt große Verantwortung. Nee, das ist alles nix für mich.

Samstag, 7. September 2024

Im Netz

Ich finde sie eklig. Allein schon die Beine. Und diese Augen. Alle erzählen mir immer, dass sie mehr Angst vor uns haben als wir vor ihnen. Aber ich mag sie einfach nicht.

Neulich im Wohnzimmer hatte ich ein besonders hässliches Exemplar vor mir. Auf einmal lief das Vieh da herum. Es war riesig, mit einem fetten Körper und diesen ekelhaften Beinen. Hatte ich erwähnt, wie furchtbar ich die Beine finde?

Und von wegen, die haben Angst. Das Ding war ganz schön aggressiv. Da hat man so ein Riesenviech im Haus und dann wird es auch noch bösartig. Keine Ahnung, ob die, die hier leben, wirklich giftig sind, aber ich lasse es auch nicht drauf ankommen.

Weil ich allein zu Hause war, konnte ich nicht viel machen. Ich warte also seitdem, bis die anderen wieder da sind. Die sollen sich was einfallen lassen. Irgendwie muss man den Oschi wieder loswerden. Das Vieh sitzt mitten im Wohnzimmer und bewegt sich nicht. Am Ende nistet es sich hier ein und kriegt noch Nachwuchs oder so.

Ich lasse es jedenfalls nicht aus den Augen. Sitze hier in meinem Netz und starre das dicke Monster an. Vielleicht habe ich eine Phobie. Eine Menschenangst. Ekelhafte Viecher. Und viel zu wenige Beine.

Montag, 5. August 2024

Übers Leben

Ich habe einen Artikel über einen Mann gelesen, der klinisch tot war, aber überlebt hat. Aus Freude darüber hat er sich einen Lotterieschein gekauft und eine fünfstellige Summe gewonnen. Darüber wollte das Fernsehen berichten und für den Beitrag hat er einen weiteren Schein gekauft. Damit hat er eine siebenstellige Summe gewonnen.

Dann habe ich einen anderen Artikel über einen Mann gelesen, der nach Jahren aus dem Koma erwacht ist. Als er das Krankenhaus verlassen durfte, wurde er überfahren.

Der Dünne von den Blues Brothers ist der Dicke von den Ghostbusters. Und das Leben bunt und wild.

Freitag, 26. Juli 2024

Von Enten und Mäusen

Ich habe eine Idee für einen Comic, der sich an Kinder richtet und auch als Trickfilm funktioniert. Es geht um einen Kerl ohne Hosen, der mit seinen drei Neffen zusammenlebt. Er trägt eine Uniformjacke und hat Schwierigkeiten, sich zu artikulieren. Seine Freundin hat denselben Nachnamen wie er und sieht ihm sehr ähnlich.

Auch sein bester Freund hat eine Lebensgefährtin, mit der er Nachname und Physiognomie teilt. Im Gegensatz zum Protagonisten trägt er nur eine Hose und dazu weiße Handschuhe. Sein Mitbewohner ist nackt, geht auf allen Vieren und trägt ein Halsband. Ein dritter Kumpel hat keinen Nachnamen und scheint mit besagtem Mitbewohner entfernt verwandt zu sein.

Der Protagonist hat einen sehr reichen Onkel, der gern kopfüber in einen Berg Hartgeld springt, wobei er erstaunlicherweise nicht verletzt wird. Es gibt noch eine Oma auf dem Land, einen offenbar degenerierten Vetter, diverse Gegenspieler mit erstaunlicher Ähnlichkeit zu unseren Helden und einen Wissenschaftler, dem von einer Glühbirne assistiert wird.

Wird ein Hit, oder?

Donnerstag, 18. Juli 2024

Am Telefon

Das Festnetztelefon klingelt. Die Nummer im Display ist mir unbekannt. Ich melde mich mit "Hallo".

Eine Automatenstimme stellt sich als PayPal vor und berichtet mir, dass eine Zahlung von 229 Euro abgebucht werde. Glücklicherweise nennt sie zudem drei Ziffern, mit denen ich den Vorgang stornieren, das Geld zurückbuchen oder mit einem Mitarbeiter sprechen kann.

Da ich schon immer mal mit PayPal telefonieren wollte, wähle ich die dritte Möglichkeit. Ich höre ein Rauschen und im Hintergrund spielende Kinder. Dann eine weibliche Stimme: "Hallo." "Hallo", antworte ich freundlich. Es folgt betretenes Schweigen auf beiden Seiten. Geldgeschäfte sind ja immer ein wenig unangenehm.

Mich interessiert, wie meine offenbar etwas schüchterne potenzielle Gesprächspartnerin heißt, und nehme mir vor, etwas später zu fragen, ob sie im Homeoffice arbeitet und auf die Kinder aufpasst. Also frage ich: "Wer ist denn da?" Keine Reaktion. "Hallo?"

Aufgelegt. Sie hat einfach aufgelegt. Früher waren die Telefonbetrüger höflicher. Und pfiffiger, denn was genau haben sie jetzt erreicht? Für einen lustigen Zusammenschnitt, mit dem man belegen kann, dass ich einen Gebrauchtwagen erstanden habe, reichen die Worte hallo, wer, ist, denn und da sicher nicht.

Montag, 15. Juli 2024

Excelsior!

Als Kind habe ich gerne Marvel-Comics gelesen. Deswegen schaue ich heute die Verfilmungen. Und klar: Irgendwie wollten wir alle wie die Protagonisten sein.

Und heute? Heute habe ich den Schlafrhythmus von Marc Spector, das Bankkonto von Peter Parker, die Figur von Ben Grimm, den Verstand von Wade Wilson, die Laune von James Howlett, die Frisur von Charles Xavier, die Ausgeglichenheit von Bruce Banner und die Geduld von Pietro Maximoff.

Montag, 8. Juli 2024

Und jetzt alle...

Ski-bi dibby dib yo da dub dub

Yo da dub dub

A licky boom boom down

Aserejé-ja-dejé

De jebe tu de jebere

Seibiunouva majavi

An de bugui an de güididípi

Hey Macarena, ay

Samstag, 22. Juni 2024

Schall und Rauch

Hattet ihr in eurer Kindheit oder Jugend auch Freunde oder Bekannte, die Namen falsch verstanden und ausgesprochen haben? Mir fallen spontan zwei selbst gehörte Beispiele ein.

Und daher gehen an dieser Stelle viele Grüße raus an meinen Mitschüler Peter in der zehnten Klasse, der sich immer sehr gefreut hat, wenn ich das T-Shirt trug, auf dem eine meiner Lieblingsbands abgebildet war, die er offenbar auch ganz gut fand. Er nannte sie "die Remonies".

Weitere Grüße gelten meinem Nachbarsjungen Manuel, mit dem ich Ende der 70er Jahre oft einträchtig in der Sandkiste saß. Wir spielten meist mit kleinen Figuren, die Charaktere aus einem damals relativ aktuellen Kinofilm darstellten. Besonders beeindruckt war er augenscheinlich vom stets schwarz gekleideten Antagonisten - allein dessen Name sorgte bereits für Angst und Schrecken in der Galaxis... Gemeint ist natürlich "der Sweder".

Mittwoch, 19. Juni 2024

Aus dem Meer

"Aber warum jetzt?" Während er diese Frage stellt, betrachtet er mich mit einer Mischung aus Neugier und Ekel. Ganz egal, was sie fühlen, sie ekeln sich immer ein wenig vor uns. "Ich meine, warum nicht schon vor Jahren? Oder Jahrhunderten?"

"Wir sind sehr geduldig", antworte ich. "Aber wir wussten, dass irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem ihr uns braucht. Oder besser: an dem der Planet uns braucht. Um ihn vor euch zu beschützen."

Sein Blick wird traurig, ohne den Ekel zu verlieren. "Wir haben viel Arbeit vor uns", sagt er. "Die Zusammenarbeit dürfte kompliziert werden." Manchmal sind sie gar nicht so dumm, denke ich sarkastisch.

"Keine Sorge, wir können ganz gut an Land überleben", beruhige ich ihn. "Ihr müsst also nicht zu uns ins Meer kommen. Zumindest nicht dauernd." Wieder Ekel in seinem Blick.

"Das... das ist gut." Er wirkt ratlos. Und irgendwie kann ich ihn verstehen. Er und ich sind die Abgesandten der beiden klügsten Völker der Erde. Aber seines ist eben nicht ganz so clever wie meines. Sie brauchen Werkzeuge, Maschinen, Computer. Waffen. Wir haben unseren Verstand.

"Vermutlich wäre euch lieber, die Delfine hätten offenbart, intelligenter als ihr zu sein, und ihre Hilfe angeboten", sage ich. "Ihr Aussehen hätte es euch einfacher gemacht. Immerhin scheinen sie zu lächeln wie ihr." Da hätte es vermutlich mehr Spaß gemacht, mit einer anderen Spezies die Natur zu bewahren. Niemand würde sich ekeln. Wir können nicht lächeln. Aber wir haben andere Vorteile.

Zum Beispiel sind wir wirklich deutlich klüger als sie. Und wir haben sechs Arme mehr.

Sonntag, 16. Juni 2024

Eitel Sonnenschein

Ich habe "Wer wird Millionär?" seit Jahren nicht gesehen, weil ich kaum noch Linearfernsehen schaue und RTL nicht mehr empfangen kann. Aber ab und zu bekomme ich über Social Media mit, wenn dort mal was Besonderes passiert. Vor kurzem ist zum Beispiel ein Kandidat an der 500-Euro-Frage gescheitert.

Nun haben die ersten paar Fragen häufig mit Wortspielen oder Redewendungen zu tun. Mir erscheint der junge Mann, der auf dem Stuhl saß, durchaus gebildet (und im Übrigen gar nicht unsympathisch), aber das spielt an dieser Stelle der Show nicht immer eine Rolle. Die Frage lautete: "Wie wird der redensartliche 'Sonnenschein' charakterisiert, der verdeutlichen soll, dass alle glücklich und zufrieden sind?" Die Antwortmöglichkeiten: "A: eitel, B: kokett, C: affektiert, D: selbstgefällig."

Der Kandidat nahm den 50:50-Joker und entschied sich dann für die falsche Antwort. Inzwischen ist auf Instagram und YouTube eine gewohnt aggressiv geführte Diskussion darüber entbrannt, ob "man" die korrekte Antwort wissen müsse oder nicht. Im Wesentlichen spalten sich die Debattierer in zwei Gruppen, nämlich "alte weiße Männer/vermeintliche Boomer/Greise und Krüstchen" auf der einen und "Generation Z/Gendersternchen-Straßenkleber/junge Leute" auf der anderen Seite. Ihr seht, es geht nicht darum, sachlich Argumente auszutauschen.

Meine Meinung dazu: Ich finde, man sollte diese Redewendung (die von manchen fälschlicherweise als Sprichwort bezeichnet wird) kennen. Sie ist nicht besonders ungewöhnlich, kann man mal gehört haben. Aber ich akzeptiere, dass es offenbar tatsächlich eine Rolle spielt, wie alt man ist. Sprache entwickelt sich weiter. Und zwischen "wohlan, der Oheim wünscht mich zu dieser späten Stunde zu sehen" und "real talk, Diggi, lass mal Oppa gehen" liegen nun einmal ein paar Jahrzehnte.

Ich habe selbst täglich mit Menschen zu tun, die halb so alt sind wie ich - und mit denen ich beispielsweise kürzlich darüber diskutieren musste, ob es die Formulierung "Stellung nehmen" wirklich gibt oder ob ich mir sowas in meinem dementen Schädel ausdenke und auf juvenile Unterstützung angewiesen bin. Die wüssten die richtige Antwort auf die Frage ebenfalls nicht.

Freitag, 31. Mai 2024

In unserer Straße (2)

Als ich von meinem heutigen dienstlichen Termin heimkehre, ist in meiner Straße der Teufel los. Inzwischen wurde eine Strecke von etwa 30 Metern komplett aufgerissen und das Loch neben dem Haus meiner Nachbarin auf vier mal vier Meter verbreitert. Sie diskutiert angeregt mit einem älteren Mann im Anzug und einem Bärtigen in leuchtend gelber Warnweste. Der Bagger und ein kleiner Laster fahren routiniert hin und her. Um das Chaos hat sich eine ansehnliche Menschenmenge versammelt. Auf den ersten Blick mache ich den Pfarrer von nebenan aus, der seine Enkelin dabei hat ("lassen Sie doch mal das Kind vor, das sieht ja gar nichts"), den dauerbekifften Biobauern aus der Parallelstraße und drei, vier Rentner, die weiter unten wohnen und hilfreiche Tipps zum Geschehen beisteuern.

Zwei Lokalpolitiker sortieren ihre Unterlagen, die Burschenschaft schleppt eilig Bierbänke herbei, die Blaskapelle spielt sich warm, eine Hüpfburg wird aufgepumpt, Hubschrauber kreisen über der Szenerie. Irgendwo bellt ein Hund. Ich fühle mich an Kishons "Blaumilchkanal" erinnert, mit einem Hauch von Loriots "Kosakenzipfel". Inzwischen ist mir klar, dass es sich nicht um eine, sondern gleich um zwei Baustellen handelt, die ein grausames Schicksal hier und heute zusammengeführt hat. Während der eine Trupp alles daran setzt, die Ursache für den Wasserschaden im Heizungskeller meiner Nachbarin zu finden oder zumindest das komplette Dorf umzugraben, verlegt das andere Team die legendären Glasfaserkabel der Deutschen Glasfaser.

"Hast du auch Glasfaser?", fragt mich Hochwürden, während er seine Enkelin tröstet, die keinen der Presslufthämmer ausprobieren darf. Ich verneine und skizziere mein Abenteuer mit dem dubiosen Anbieter, worauf der Geistliche im Ruhestand erst ankündigt, ebenfalls vom Vorvertrag zurückzutreten, und dann verspricht, bei seinem früheren Chef ein gutes Wort für mich einzulegen. Das scheint meine Nachbarin fast noch nötiger zu haben: "Ich ertrage das alles nicht", versichert sie glaubhaft. "Vor allem diesen Lärm." Offenbar kommt das Wasser nicht aus der Kanalisation, sondern aus dem Erdreich.

"Öl wäre schöner gewesen, was?", tröste ich, schiebe eine Absperrung beiseite und finde den Weg zu meinem Grundstück zwischen Geröllhaufen und Vorschlaghämmern. Mein Haus hat isolierte Scheiben, die allenfalls der "Oldie Abend" erschüttert. Die Internet-Verbindung über Kupferkabel funktioniert einwandfrei. Ich habe weder Enkel noch mag ich Blasmusik. Ausnahmsweise mal alles richtig gemacht. Allenfalls über einen Hund würde ich mit mir reden lassen.

Donnerstag, 30. Mai 2024

In unserer Straße (1)

Um 7 Uhr klingelt es an der Tür. Glücklicherweise habe ich kaum geschlafen und bin daher so müde, dass ich mich nicht aufregen kann. Da ich weiß, wer vor dem Tor steht, lasse ich mir Zeit. Als ich frisch geduscht und angezogen auf den Hof trete, gibt die Nachbarin den Bauarbeitern gerade meine Telefonnummer. Interessanterweise mit Vorwahl.

Ich hatte am Mittwoch tatsächlich gewagt, das Auto am Straßenrand zu parken, um die Einkäufe nicht 100 Meter weit schleppen zu müssen. Nun steht es offenbar im Weg, denn die Reparatur des Abwasserrohrs am vorgelagerten Nachbargebäude macht es augenscheinlich nötig, mit zwölf Mann die halbe Straße aufzubaggern.

Ehe ich umparke, frage ich einen der Arbeiter, wer die Verantwortung für das Großprojekt trägt. Leider spricht er weder Deutsch noch Englisch, versteht aber das Wort "Chef". Der sei nicht da. Schade, ich hätte ein paar Fragen und Anmerkungen.

Nachdem mich der Bagger in die Parallelstraße gelassen hat, muss ich nur noch einige Absperrungen wegschieben, um zurück ins Haus zu gelangen. Ich bin relativ sicher, dass sie bis Montag die Wasserversorgung abschalten.

Naja, wenigstens bin ich nicht der Einzige, der heute keinen Brückentag hat.

Samstag, 25. Mai 2024

In der Hosentasche

(c) Markus Engelhardt
Kennt ihr diese Multi-Tools? Mit Taschenmesser, Schraubendreher, Flaschenöffner, Fluxkompensator und Boden-Luft-Raketenwerfer? Ich hab sowas ja meist in der Hosentasche, falls spontan die Zombie-Apokalypse ausbricht oder ich mal wieder im Hinterland in unerschlossenem Gebiet feststecke.

Das hier waren die Multi-Tools meines Vaters: seine Rasierpinsel und der legendäre "kleene Dicke". Der Alte war ein wirklich begnadeter Heimwerker, aber seine Superkraft war Improvisation. (Manche sagen auch, sie sei sein Kryptonit gewesen.) Mit den Pinseln hat er tatsächlich seinen Bartwuchs getrimmt. Aber er hat mit ihnen auch unter anderem eine komplette Küche gestrichen und ein Wohnzimmer renoviert. Und der "kleene Dicke" war eigentlich immer am Mann - und dabei viel mehr als ein sehr handlicher Schraubendreher. Er diente als Stemmeisen, Stromprüfer, Lackentferner, Drahtschneider, Meinungsverstärker... Mit dem Teil hat mein Pa ganze Gartenhäuschen errichtet.

Er war wohl seiner Zeit voraus, wie alle großen Geister. Ich überlege, ein Startup auf den Weg zu bringen und die Dinger in Serie gehen zu lassen.

Mittwoch, 22. Mai 2024

In der Werkstatt

Gestern habe ich die Kfz-Werkstatt meines Vertrauens angerufen. Der Pasodoblebär hat bergauf arge Mühe und im Dunkeln nur ein Auge. Der Mitarbeiter am Telefon gab folgsam die alte Geschichte vom vollen Terminbuch zum Besten. Ich verwies darauf, den Chef zu kennen und Stammkunde zu sein. Also sagte man mir zu, mich am folgenden Nachmittag dazwischen zu schieben.

Als ich heute an der Anmeldung von dieser  Vereinbarung berichte, weiß der Kollege von nichts. Der Inhaber wird in unmittelbarer Nähe von einem anderen Kunden besprochen, der ob seines hohen Alters ohrenscheinlich fast taub ist und daher nicht redet, sondern brüllt. Das vereinfacht die Kommunikation mit dem ohnehin überforderten Mitarbeiter nicht gerade.

Immerhin sucht er im System nach meinen Daten. "XX-ME 1701", antworte ich wahrheitsgemäß auf die Frage nach dem Kennzeichen meines Kleinwagens. Er findet keinen Eintrag und sucht daher nach meinem Namen, den ich insgesamt dreimal buchstabiere. Oh, da bin ich ja.

Ich skizziere den Grund meines Besuchs. Ebenfalls dreimal. Er notiert alles, druckt es aus und lässt mich unterschreiben. Dann hängt er einen kleinen Plastikstreifen an den Autoschlüssel und kritzelt "LDK-WR 8759" darauf. Ich empfehle, vielleicht besser das Kennzeichnen meines Autos an den zugehörigen Schlüssel zu hängen statt eines anderen. Er streicht das falsche Kennzeichen durch und schreibt ein anderes darauf, das er mir stolz zeigt: "XX-ME 7101".

"Wir nähern uns an", lobe ich. Langsam erkenne ich ein System: Alles muss dreimal gemacht werden. Der Mitarbeiter unterbricht den lautstarken Redefluss des Seniors und verweist darauf, dass viel zu tun sei. Sein Chef nutzt die Gelegentlich zur Flucht in die Werkstatt und nimmt meinen Autoschlüssel mit.

"Lassen Sie den Wagen da?", fragt mich sein Angestellter. "Ja. Und ich bleibe ebenfalls hier", lasse ich ihn wissen. "Ich hatte 45 Minuten Anfahrt, die Strecke laufe ich nicht zurück." "Ach, sind Sie gar nicht aus Wetzlar?" Meine überraschte Pause nutzen zwei weitere Kunden, um ebenfalls ihr Glück zu versuchen. Beide haben Termine und daher gute Karten. Plötzlich fährt mein Auto vorbei und kehrt 20 Minuten später zurück. Kurz darauf ruft mir der Chef zu, alles sei erledigt.

Beim Auslesen und während der Probefahrt sei nichts festgestellt worden. Für ein Fahrzeug seiner Klasse und seines Baujahrs fahre der kleine Rote ganz normal. Das stimmt zwar nicht, aber da schon diese Überprüfung und eine neue Birne im Scheinwerfer mit einer dreistelligen - natürlich - Summe zu Buche schlagen, akzeptiere ich die Diagnose.

Allein schon auf der Fahrt vom Hof ruckelt mein Auto spür- und sichtbar. Dreimal.

Sonntag, 5. Mai 2024

In der Pandemie

Laufen fällt mir schwer. Eigentlich taumele ich eher von einer Seite zur anderen, indem ich mein Gewicht verlagere. Sprechen ist noch schwieriger. Wenn ich es versuche, kommen nur stöhnende Laute aus meinem Mund und manchmal sogar eine Art Fauchen.

Offenbar fällt das auch den anderen auf. Vor ein paar Tagen haben alle noch gesagt, wie gern sie mich haben. Und dass sie mich vermissen. Manche haben gejammert, ich solle doch wiederkommen.

Jetzt bin ich wieder da, aber alle schreien nur und laufen davon. Immerhin riechen sie lecker.

Die Karin

Ich dachte immer, die meisten Videos in dieser Richtung seien gescriptet... Aber gestern hatte ich meine erste Begegnung mit einer Karen. Oder heißen die bei uns Karin? jedenfalls fuhr ich in Kaffhausen den Berg hoch und durch eine Fahrbahnverengung, Der Beschilderung nach muss tatsächlich der von unten kommende Verkehrsteilnehmer warten, falls von oben jemand kommt. Das war allerdings nicht der Fall.

Mein Autochen hatte die einspurige Strecke schon fast hinter sich gebracht, als Karin mit ihrem alten Mercedes in Hornhautumbra sich dieser näherte - und stehenblieb. Offensichtlich dachte sie, Vorfahrt gewähren bedeutet, dass man die komplette Strecke rückwärts wieder runterfährt, wenn oben am Horizont jemand auftaucht. Sie brüllte unhörbar und gestikulierte wild, ihr gleichfalls betagter Beifahrer tat so, als gehe ihn das alles nichts an.

Natürlich blieb auch ich stehen - etwas anderes war gar nicht möglich. Also standen wir dort in der Abenddämmerung, quasi Stoßstange an Stoßstange. Der Pasodoblebär direkt am Ende der Verengung, Karins Benz kurz davor. So stur wie eine altersstarrsinnige Wachtel ohne Grundkenntnisse der StVO bin ich notfalls auch. Von hinten näherte sich ein weiteres Auto, dessen Fahrerin irgendwann ausstieg, um offenbar zu vermitteln.

Karin hatte Glück: Ich war auf dem Weg zu einem Termin, der mir deutlich unterhaltsamer schien als das Psychoduell mit einer Gift und Galle spuckenden Oma. Also ließ ich den Panda provozierend langsam wieder zurückrollen und machte unten gerade so viel Platz, dass Tantchens Vehikel vorbeifahren konnte. Die tobende Greisin kurbelte noch die Scheibe runter und brüllte etwas Unverständliches.

Grundsätzlich mag ich es nicht, wenn der Klügere nachgibt. Dadurch fühlen die Dümmeren sich als Sieger. Aber vielleicht sollte jeder mal eine Karin treffen. Auseinandersetzungen wegen banaler Dinge erden irgendwie. Und man übt sich in Gelassenheit.

Also auf Karin, die alte Vettel. Und allzeit gute Fahrt.

Montag, 29. April 2024

Der Leihwagen (3)

Es macht mich immer ganz nervös, wenn die spannenden Berichte aus meinem aufregenden Alltag keine thematische Trilogie bilden. Daher zu eurer Erbauung die lang erwartete Fortsetzung meines Leihwagen-Abenteuers. Heute rief ich zur Abwechslung mal eine andere Kfz-Werkstatt an - nämlich jene, die meine Sommerräder eingelagert hat. Der Chef versprach einen raschen Rückruf, um einen vereinbarten Termin festzuzurren und ins Computersystem einzutragen, rief nicht zurück und ließ den Auftrag von einem Mitarbeiter auf meine Nachfrage bestätigen. So weit, so erwartbar.

Dann suchte ich die andere Werkstatt auf, die sicher irgendwann die Bremsen meines Autos reparieren wird. Praktisch wäre es, wenn ich dieses nicht morgen Abend, sondern am Donnerstag abholen könnte. Dann hätte ich den zwar winzig kleinen, aber mit intakten Reifen versehenen Leihwagen über den Feiertag zur Verfügung. Leider geht das nicht, weil ein Betriebsausflug die komplette Belegschaft von Mittwoch bis Sonntag nach Amsterdam führt.

Während die feinen Herrschaften es also zwischen Grachten krachen lassen, sitze ich am 1. Mai zu Hause, um Reifen und Nerven zu schonen. Es sei auch nicht möglich, meinen Autoschlüssel auf dem Werksgelände zu hinterlegen, da in dieser Gegend viele Einbrecher unterwegs seien, ließ mich die Frau des Inhabers wissen. Das Heskemer Industriegebiet ist ein übles Viertel. In den düsteren Straßen von Gotham flüstern dunkle Gestalten sich voller Ehrfurcht die Legenden über das Geschehen dort zu.

Immerhin konnte ich die Parkscheibe aus meinem Auto holen. Abgeschlossen war es nicht. Es enthält außer Navi und Presse-Schild praktisch keine Wertgegenstände.

Und wegen der kaputten Reifen kämen Autodiebe ohnehin nicht weit.

Freitag, 26. April 2024

Der Leihwagen (2)

Hier kommt auf vielfachen Wunsch die Fortsetzung meiner gestrigen Abenteuer. Heute sollte ich erfahren, was genau an meinem Auto kaputt ist, wann es repariert werden kann und was das kostet. Daher war vereinbart, dass mich die Werkstatt am Morgen anruft. Am späten Vormittag rief ich dort an, um mich zu erkundigen, ob alles in Ordnung sei. Man macht sich ja doch Sorgen, wenn man so gar nichts hört.

Die Reparatur der Bremsen kostet ungefähr all mein Geld, eventuell muss ich noch ein paar Organe verkaufen. Auch müssen neue Reifen her, am besten schnell. Gut, dass in einer anderen Werkstatt einige Kilometer von hier noch vier eingelagert sind, die ich mein Eigen nenne.

Auch bekam ich ein anderes Leihfahrzeug. Es handelt sich um einen Sehrsehrkleinwagen von VW. Bei der Übergabe wollte die Frau des Werkstattinhabers wissen, ob ich noch Fragen habe. Ich hatte eine: "Bekomme ich auch einen für das andere Bein?"

Wenn man 1,86 Meter groß und damit für sein Kampfgewicht etwas zu klein ist, muss man nämlich das Dach des VWs aufschweißen, abheben, sich mittels eines Flaschenzugs von oben reinsetzen lassen, das Dach zuschweißen und anschließend in einer Liegeposition versuchen, das Lenkrad zu bewegen, während die Knie es nach oben abknicken. Mit etwas Übung klappt das alles ganz gut. Und es sorgt für Aufsehen auf öffentlichen Parkplätzen.

Aussteigen ist relativ schmerzhaft. Im Prinzip lässt man sich seitlich aus dem Fahrzeug fallen, wobei man allerdings mit dem Kopf hängenbleibt. Das Problem ist wirklich die Körperlänge, nicht die Breite. Offenbar sind Kfz-Mechaniker häufig Zwerge.

Donnerstag, 25. April 2024

Der Leihwagen (1)

Vor sieben, sechs und fünf Jahren schrieb ich meinen Facebook-Erinnerungen zufolge, einen „grandiosen Scheißtag“ zu haben. Nun, das ist heute nicht anders.

Während einer langen Dienstfahrt bemerkte ich, dass etwas mit den Bremsen meines Autos nicht stimmt. Also fuhr ich auf dem Heimweg zu einer Werkstatt. Dort sicherte man mir rasche Hilfe zu und überließ mir einen Leihwagen. Diesen solle ich vollgetankt zurückbringen. Ich wohne zwei Kilometer entfernt, daher dürften sich diese Unkosten als zumutbar erweisen. Dachte ich.

Doch - siehe Foto - der Tank ist leer. Zur Ehrenrettung der Werkstatt: Man sah den Fehler sofort ein, zahlen muss ich nichts.

Das freut meine Geldbörse. Vor lauter Begeisterung ist sie ins Klo gefallen.

Was für ein grandioser Scheißtag.

Samstag, 20. April 2024

Kommen wir zum Sport

Ich habe beruflich ziemlich genau zweimal mit Promis aus dem Sport telefoniert: Einmal mit der Ehefrau von René Weller und einmal mit Eike Immel. Dieser sollte im Kirchhainer Amtsgericht als Zeuge aussagen - worum es genau ging, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall tauchte der einstige Nationaltorwart und gebürtige Stadtallendorfer nicht auf. Hängende Schultern also bei der versammelten Pressemeute. Nur zwei von uns ließen sich nicht entmutigen. Der Kollege vom HR interviewte kurzerhand einen anwesenden Stadtallendorfer Stadtverordneten der Republikaner, der behauptete, mit Immel befreundet zu sein. Und ich rief bei RTL an, denn Immel hatte kurz vorher im Dschungelcamp gesessen.

Glücklicherweise hatte ich einen Praktikanten dran, der mir bereitwillig Immels Mobilnummer gab. Ich ärgere mich bis heute, diese nicht mehr zu besitzen und nicht nach weiteren gefragt zu haben. Ich erreichte Eike Immel im Auto, auf der Heimfahrt - dem Vernehmen nach war er dem Rat seines Anwalts gefolgt und hatte auf halber Strecke kehrtgemacht. Netter Kerl, relativ schlichtes Gemüt, überraschend auskunftsfreudig. Er erzählte schon damals von massiven finanziellen Problemen.

Natürlich fragte ich ihn auch nach seiner angeblichen Freundschaft mit einem örtlichen Rechtsaußen. Es stellte sich heraus, dass er den gar nicht kannte. Daher entsetzte ihn, dass ein entsprechendes Zitat wohl am Abend in der Hessenschau zu hören sein würde: "Hab ich nicht schon genug Probleme?"

Und das war er auch schon, mein Ausflug in die Welt der Sportprominenz. Nächste Woche erzähle ich vielleicht, wie ich Wellers heutiger Witwe am Telefon ausreden konnte, meinen Verlag zu verklagen...

Freitag, 19. April 2024

Beim Essen

Seit drei Wochen verzichte ich auf Kohlenhydrate. (Das bringt mit sich, dass ich meine Bemühungen, meinen Fleischverzehr zu reduzieren, zumindest vorläufig aufgegeben habe - also scrollen Veggies und Veganer bitte mal weiter. 🙂) Morgens trinke ich einen Proteinshake (dessen industrielle Hintergründe ich einstweilen bewusst nicht hinterfrage) und einen Ingwer-Shot. Mittags esse ich Salat und Geflügel, abends Gemüse und manchmal eine Wurst oder ein kleines Steak. Und ich versuche, jeden Tag Workout zu machen. Meist erfolgreich.

Zwar sehe nicht aus wie der Suppenkasper am letzten Tag und auch (noch) nicht wie Dwayne Johnson vor Beginn von Dreharbeiten. Aber immerhin so, dass mein Orthopäde mir am Mittwoch attestierte, fitter zu wirken als vor drei Monaten. Außerdem rutscht mir die Hose, ich komme schneller aus meinem Kleinwagen, bin nicht mehr außer Atem, habe weniger Rückenschmerzen, fühle mich besser.

Wie anstrengend ist das? Eigentlich gar nicht so sehr. Beim Trekdinner Mittelhessen habe ich mir eine Pizza und eine Panna cotta gegönnt, ansonsten lasse ich beim Salat in der Kneipe sogar die Croutons auf dem Teller. Anfang der Woche hatte ich unfassbar Bock auf ein einfaches Brötchen (blieb aber standhaft). Als Alternative zu einem frühen Ableben ist Selbstdisziplin ganz okay.

Denn machen wir uns nichts vor. werte Mitkrüstchen und -greise: Mit Mitte 20 kann man futtern, was man will, und auf der Couch leben. Aber irgendwann muss man was tun, um sich gut zu fühlen.

Und gut fühlt sich gut an.

Sonntag, 24. März 2024

Auf dem Mond

Er atmete tief ein und wieder aus. Die Innenseite seines Visiers beschlug. Für einen Moment schloss er die Augen und konzentrierte sich. Den ersten Spruch hatte er fehlerfrei aufgesagt. Die Technik funktionierte reibungslos. Alles in Ordnung. Nun stand der aufregende Teil seiner Mission an.

Er trat ins Freie und bewegte sich unendlich langsam voran. Aus dem Augenwinkel sah er den tiefschwarzen Himmel. Auch er war unendlich. Und zwar wörtlich.

Als sein Stiefel den Boden berührte, beschleunigte sich sein Puls. Er hatte sich lange auf diesen Tag vorbereitet. Was sollte er nochmal sagen? Dann fielen ihm die Worte wieder ein. Über Funk hörte er seine eigene Stimme: "That’s one small step for man… one… giant leap for mankind."

Verdammt. Versprochen. Und Millionen Menschen dort unten hatten es gehört.