Sonntag, 29. November 2020

Meine Weihnachtsgeschichte

Meine Kindheit habe ich in einer Kleinstadt im Rhein-Main-Gebiet verbracht. Für eine echte Stadt zu winzig und provinziell, für ein Dorf zu verbaut und hässlich. Das Leben fand hinter verrosteten Eisenzäunen statt. Gelebte Badesalz-Sketche. Im Alter von elf Jahren wurde ich genötigt, am Krippenspiel einer der beiden evangelischen Kirchengemeinden teilzunehmen. Ich gab wenig enthusiastisch, aber fein nuanciert den zweiten Schäfer von links. Einen Charakter, der durch bloße Präsenz überzeugte.

Auf der Bühne der Gemeindehalle stand eine Pappwand, die ebenfalls etwas darstellte, nämlich den Backstage-Bereich. Nachdem mein Kumpel Robert und ich unseren Auftritt bravourös hinter uns gebracht hatten, verbrachten wir die restliche Dauer des Stücks genau dort. Hinter einem Pappkarton. Auf der Bühne. Vor der die versammelte Gemeinde saß, inklusive sämtlicher Verwandter. Und unterhielten uns angeregt - unter anderem über den aktuellen "Die Spinne"-Comic und eine geplante Radtour. Angeregt und lautstark. Lauter als die eigentlichen Protagonisten, also des späteren Lattengustls erste Geburtstagsgäste. Auf das Publikum muss das mindestens befremdlich gewirkt haben. "Wer seid ihr, Reisende?" "Der Jürgen kommt auch!" "Wir sind die heiligen..." "... zu dritt isses auch lustiger!"

Vermutlich waren wir unserer Zeit voraus und unsere Zuhörer einfach noch nicht bereit für soviel Avantgarde. Wir selbst bekamen gar nicht mit, dass wir bis zur letzten Bankreihe gut zu hören waren. Ich verstand daher weder, warum meine Mutter mich später mit hochrotem Kopf - einer Mischung aus Wut und Scham - erst aus der Halle und dann nach Hause zerrte. Noch konnte ich mir erklären, weshalb die Gattin unseres Pfarrers, die gleichzeitig meine Reli-Lehrerin war, die gleiche Färbung angenommen hatte. Und was ich nicht mal ahnte: Anderthalb Jahre später sollte ich meine Vorstellung locker überbieten. In der anderen evangelischen Gemeinde. Wenn schon, denn schon. Aber das ist eine andere Geschichte, und sie soll ein anderes Mal erzählt werden.

Dienstag, 24. November 2020

Im Konzert

"Es geht eben nix über Livemusik", brüllte er ihr ins Ohr, um gegen die kreischenden Gitarren, wummernden Bässe und dröhnenden Drums anzukommen. "Ja", schrie sie zurück und erwiderte sein Grinsen. Gemeinsam stürzten sie verschwitzt nach vorne, genossen es, eins mit der Musik zu werden. Natürlich kannten sie jeden Text, sagen Zeile um Zeile mit und grölten ausgelassen den Refrain. Wenn sie ihre Haare schüttelten, flogen Schweißtropfen. Sie merkten gar nicht, wie anstrengend das Tanzen war, weil die Töne sie davontrugen, auf einer wilden Flamme, die im Rhythmus zuckte. Die grellen Lichter, die Lautstärke der Instrumente - direkt vor den Boxen zappelten sie ausgelassen zu ihren Lieblingssongs. Plötzlich klingelte es an der Haustür. Rasch griff sie zur Fernbedienung und stellte die Stereoanlage leiser, während er sein Hemd richtete, bevor dem Postboten öffnete. "Wir bestellen zuviel", meinte sie. "Alles aus Langeweile", gab er zu.

Sonntag, 8. November 2020

Im Herbst

"Ich trau mich nicht." Ängstlich guckte sie nach unten. Der Boden war kaum zu erkennen. "Ach was", sagte ihr Nachbar. "Du musst einfach nur loslassen. Ist ganz einfach. Haben Tausende vor dir gemacht. Und es wird auch langsam Zeit." Sie war nicht überzeugt. "Aber was passiert dann?", fragte sie. "Lande ich wirklich weich und treffe alte Freunde wieder?" Der Nachbar wurde ungeduldig. "Natürlich", meinte er. "Und wenn du Glück hast, lernst du vorher noch fliegen." Sie seufzte, nahm allen Mut zusammen und ließ los. Ein Windhauch erfasste sie, sie segelte mehrere Meter durch die Luft und rief: "Hui!" Dann landete sie ganz sanft auf dem Haufen der anderen Blätter und dachte ein letztes Wort: "Winter."

Donnerstag, 5. November 2020

In Schweden

"Ich finde die Dinger gruselig", sagte sie und blickte angewidert auf die Plastikfigur, die seit ein paar Kilometern am Rückspiegel baumelte. "Was ist denn daran gruselig?", gab er zurück, die Augen auf die Straße gerichtet. "Der kleine Kerl ist doch putzig." Er hatte den Troll an der Tankstelle gekauft und verkündet: "Nun sind wir bereit für unsere Tour durch Schweden - Trolle bringen Glück." Jetzt fragte er gut gelaunt: "Warum haben die Kerlchen eigentlich immer solche lustigen Stupsnasen?" Sie grummelte: "Das ist wie mit Gott. Irgendwann hat da jemand entschieden, dass alter Mann mit Bart Kanon ist." Er lächelte.

"Der guckt so unheimlich", meinte sie. "Irgendwie kriege ich Gänsehaut." Der Plastiktroll schien sie mit seinen schwarzen Augen anzustarren, die unter der lila Wuschelfrisur hervorstachen. "Okay, okay, schon verstanden", antwortete er, riss die Figur vom Innenspiegel und warf ihn ins Handschuhfach. "Zufrieden?" "Zumindest beruhigt", sagte sie und machte ein Nickerchen.

Als sie wach wurde, fiel ihr Blick als erstes auf den Troll, der wieder unterm Rückspiegel hing und sie ansah. "Was soll das denn?", blaffte sie. "Wieso hängt der wieder da?" "Keine Ahnung", sagte er und wirkte ehrlich überrascht. "Ist mir gar nicht aufgefallen. Bist du sicher, dass du ihn nicht im Halbschlaf wieder hingehängt hast?" "Ja. Da bin ich ganz sicher." Langsam wurde sie wütend. An der nächsten Raststätte machten sie Halt, und er warf den Troll in eine Mülltonne. Als er den Motor anließ, sagte er: "So, das dürfte geklärt sein." Sie sah aus dem Seitenfenster und betrachtete die schwedische Landschaft.

Einige Kilometer weiter fuhr er plötzlich an den Straßenrand. "Was ist..?", begann sie, aber dann sah sie es. Der Troll hing wieder am Rückspiegel. Und er starrte sie an. "Das gibt's doch nicht, verdammter Mist", keuchte er, riss die Figur wieder ab und stieg aus. Sie sah, wie er sein Feuerzeug aus der Hosentasche kramte und den brennenden Troll auf den Boden warf. Dann trat er mehrfach auf den verschmorten Plastikhaufen ein. Als er einstieg, sahen sie sich an. "Werden wir verrückt?", fragte er. Sie zögerte mit einer Antwort: "Ich... weiß es nicht."

Es wurde langsam dunkel, und er hätte das Auto fast in den Gegenverkehr gezogen, als sie beide mit weit aufgerissenen Augen auf den kleinen Troll starrten, der wieder am Innenspiegel hing. "Jetzt reicht's", keuchte er, fuhr rechts ran, riss die Figur ab und stampfte vor den Wagen. Im Scheinwerferlicht sah sie, wie er den Troll mit seinem Taschenmesser zerschnitt und die Einzelteile ins Gebüsch warf. Dann rannte er zum Fahrzeug zurück, öffnete die Tür und sagte mit brüchiger Stimme: "Ich... das... kann doch alles gar nicht..."

Weiter kam er nicht. Eine riesige Hand hatte ihn von hinten gepackt und in das Zwielicht zwischen Scheinwerfer und schwedischer Nacht gezogen. Entsetzt starrte er den Angreifer an und erkannte ihn sofort. Die lila Wuschelhaare, die schwarzen Knopfaugen - aber der Troll war nun hünenhaft und haarig und offensichtlich sehr schlecht gelaunt. Und sein Gesicht... Statt der Stupsnase und des verschmitzten Grinsens hatte er eine groteske Fratze, wie die bizarre Parodie auf skandinavische Fabelwesen, völlig verzerrt und entstellt und laut brüllend. Als der Troll mit einer Pranke seinen Kopf zerquetschte, dachte er: "Scheiße - was, wenn Gott am Ende auch..?"

Sie schrie und konnte nicht mehr aufhören. Starr vor Angst sah sie zu, wie das Monster im Halbdunkel sein blutiges Abendbrot zu sich nahm. Dann dreht es sich zu ihr um und glotzte sie durch die Windschutzscheibe an. "Er guckt wirklich unheimlich", dachte sie, als der Troll auf sie zukam.