Dienstag, 19. November 2019

Im Fratzenbuch

Vier Menschen stehen an der Bushaltestelle. Nach einer Weile zieht ein Mann mittleren Alters einen Stapel Fotos aus der Jacke, hält eines von ihnen hoch und ruft: "Ich hatte heute Mittag leckere Spaghetti!" Eine ältere Frau und ein Teenager mit Ziegenbart halten spontan ihre Daumen hoch, eine Mittzwanzigerin reagiert allerdings unwirsch: "Das Bild ist unscharf. Außerdem bin ich Veganerin." Der Ziegenbart hält sofort dagegen: "Blöde Schlampe! Ihr linksgrünversifften Greta-Jünger seit systemkonforme Lemminge!" Die Angesprochene korrigiert ihn: "Es heißt 'seid'."

Die Oma zieht ein erstauntes Gesicht, der Mann in den besten Jahren ein weiteres Foto aus der Tasche, das glücklicherweise ebenfalls unscharf ist. "Ich hatte eine Darmspiegelung", verkündet er lautstark. Die junge Frau und der Ziegenbart beleidigen wechselseitig ihre Eltern, die ältere Dame hebt abwechselnd ihren Daumen und kramt in ihrer Handtasche. Nachdem der mittelalte Mann der jungen Frau in der Beurteilung der Verwandtschaftsverhältnisse zwischen dem Ziegenbart und einer tatsächlichen Ziege zugestimmt hat, will dieser zunächst aggressiv widersprechen, wird aber dadurch abgelenkt, dass die ältere Frau nun ebenfalls ein Bild schwenkt. Es zeigt zwei Katzenbabys in Trikots von Bayern München. Ziegenbart und Mittelalter recken die Daumen, die jüngere Frau jauchzt verzückt, wendet allerdings ein, dass die Bayern ein "beschissener Verein gelangweilter Millionäre" seien. Der Herr im besten Alter hält sich aus der folgenden Diskussion zwischen den beiden Frauen und dem jungen Mann heraus, lässt die anderen aber wissen, sich nicht für Sport zu interessieren.

Während er unschlüssig auf seine beiden verbliebenen Fotos starrt - eine Röntgenaufnahme seines Innenohrs und ein lustig bearbeitetes Bild von Adolf Hitler und einem Primaten -, sagt der Bärtige, was er denkt: "Dank Merkels Goldstücken darf man ja nicht mehr sagen, was man denkt! Armes Deutschland!" Die Greisin hebt zunächst den Daumen, entscheidet sich dann aber dafür, diese Äußerung mit einem kryptischen Lachen zu quittieren. Die jüngere Frau malt einen kleinen Kothaufen mit Augen an die Bushaltestelle. Der ältere Mann verstaut seine Fotos wieder in der Jackentasche und geht davon aus, die Erinnerung daran sei im gleichen Moment verschwunden.

Der junge Mann lässt die Oma wissen: "Ich hatte auch mal ein Kätzchen. Aber Hunde sind besser. Kauf dir einen Hund." Der Bus kommt, alle steigen ein. Es ist die Linie Zuckerberg 19. Die Werbetafeln an der Außenseite zeigen Pasta, Katzenfutter, Alice Weidel und Hansi Flick.

Sonntag, 29. September 2019

Nicht im Fernsehen

"Zunächst mal herzlich willkommen, Markus. Die wichtigste Frage, die wohl uns allen auf der Seele brennt: Du hast ja den anstrengendsten Job der Welt - wie schaffst du es, damit klarzukommen? Jeder andere würde ständig seine Freunde auf Facebook damit nerven, wie schlecht es ihm geht... Aber du erträgst das tapfer und klaglos. Was ist dein Geheimnis?"

"Nun, berühmter Talkmaster Conan O'Brien, danke für die Einladung und die interessante Frage. Wie ich es schaffe, so beeindruckend locker mit einer Arbeit umzugehen, die jeden anderen sicher fertigmachen würde? Naja, ich denke, ich verschaffe mir einfach Ablenkung im Privatleben. Eine gehörige Portion Eskapismus hilft schon sehr dabei, mit einem unfassbar fordernden Job wie meinem umzugehen."

"Da muss ich mal einhaken, lieber Markus: Was genau tust du denn, um Abstand von deiner zwar wichtigen und anspruchsvollen, aber eben auch unglaublich stressigen Arbeit zu gewinnen?"

"Naja, berühmte Komikerin und Co-Moderatorin Ellen DeGeneres, was soll ich sagen? Meine Tipps sind: schlafen, wann immer es geht, Serien gnadenlos wegbingen - am besten Comedy, Mystery und Fantasy, also alles mit -y am Ende -, Rock der 70er und 90er hören, Schlagzeug spielen, Friesenkrimis lesen, regelmäßig den Sonntagabend-Krimi gucken, noch regelmäßiger Gewichte stemmen, Nerd-Kram, Tonträger und Filme sammeln, den Nachbarn aus dem Weg gehen, ab und zu ins Kino... Aber vor allem - und jetzt hört mir bitte genau zu, Ellen und Conan..."

"Machen wir! Sag endlich!"

"Komm schon - spann' uns nicht auf die Folter!"

"... vor allem: Verbringt soviel Zeit wie möglich mit den wichtigen Menschen in eurem Leben. Und achtet darauf, dass es gute Menschen sind. Denn dann und nur dann kommt ihr klar im Leben. Selbst mit einem aufreibenden Job wie meinem."

Dienstag, 24. September 2019

Auf der Straße

Nein, sie gingen nicht zurück. Sie gingen auf die Straße. Sie waren aufgestanden, um etwas zu ändern. Das hatten sie sich vorgenommen, das würden sie auch tun. Anfangs waren es nur wenige, aber dann wurden es immer mehr. Ihre Zahl wuchs, bis man sie nicht mehr übersehen konnte. Und nicht mehr überhören. An ihrer Spitze lief ein Mensch, der zu einem Symbol geworden war. Der aussprach, was sie alle bewegte und weswegen sie nebeneinander liefen. Er sprach von Ungerechtigkeit und davon, dass es so nicht weitergehen könne. Vor allem sprach von der Zukunft, die hier und heute in den Händen der Menschen lag. Er sprach von seinem Traum.

Ihre Gegner versuchten, sie lächerlich zu machen. Ihresgleichen sollte sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Es sei nicht ihre Aufgabe, sich solche Gedanken zu machen. Sie seien nicht gebildet genug, um überhaupt mitreden zu können. Und die Zukunft sei nicht ihre. Häme, aber auch Hass und Aggressionen schlugen ihnen entgegen, als sie durch die Straßen gingen. Männer, Frauen, Kinder - Seite an Seite, eine unbeirrbare Masse. Nicht aufzuhalten von den Lügen und der Gewalt ihrer Feinde.

Heute wissen wir, dass sie Recht hatten. Heute sind viele ihrer Ziele keine unerfüllten Träume mehr, sondern längst erreicht. Ihre Gegner haben sich geirrt, denn die Menschen, die damals auf die Straße gingen, haben die Welt verändert. Der Preis: Der Mensch an der Spitze dieser Bewegung wurde ermordet. Doch seine Worte sind Legende, seinen Namen kennt heute jeder: Martin Luther King.

Gut, dass es damals noch kein Facebook gab.

Dienstag, 20. August 2019

Auf der Autobahn

Obwohl ich mich darum bemühe, möglichst ohne Vorurteile zu leben und defensiv Auto zu fahren, habe ich auf den Straßen der Republik ein Feindbild: sehr alte Männer in sehr schnellen Autos.

Zum einen fahren die Schrumpel-Schumachers auch 70 Jahre nach ihrer Führer-Scheinprüfung, wie sie es an der Ostfront gelernt haben: flink wie Windbeutel, zäh wie ihre höhensonnengegerbte Haut und hart wie die Rolex am rheumatischen Handgelenk. Zum anderen lässt sie ihr aufgeplustertes Ego vergessen, dass sie ihre tiefergelegten Ersatz-Schniedel zu keinem Zeitpunkt im Griff haben. Wofür ich übrigens noch einigermaßen Verständnis aufbringe, schließlich haben sie das Töfftöff in der Fahrschule noch mit einer Kurbel angeworfen.

Mit der gleichen aggressiven Souveränität, mit der sie pastellfarbene Polohemden tragen oder sich Haare vom Schrumpfsack auf die fliehende Stirn tackern lassen, begegnen sie ihren Feinden - sprich: allen anderen Verkehrsteilnehmern. Klar, wenn man augenscheinlich mehr auf dem Schweizer Konto hat als der durchschnittliche Mit-Rentner, kann man schon mal ein wenig den Blick für die Realität verlieren; die Ray Ban vor dem milchigen Triefauge trägt ihren Teil dazu bei. Also glauben die Vorstandsvorsitzenden, Oberstufenlehrer oder Geheimräte im Unruhestand, auf der forschen Fahrt vom Squash-Treffen zum Segel-Wochenende gehöre ihnen - und nur ihnen - die Autobahn, die ihnen zudem nicht selten politische Argumentationshilfe ist.

Mein Tipp: eventuell weniger blaue Pillen mit dem Edel-Cognac aus der Mahagoni-Schreibtischschublade runterspülen und stattdessen doch mal ab und zu den Blinker oder die Bremse benutzen. Und ganz ehrlich: Mit Mitte 80 muss es kein Porsche mehr sein.

Montag, 19. August 2019

Im 13. Stock

Als er auf das Fenstersims trat, atmete er tief und ruhig ein. Zum ersten Mal seit Monaten. Sein Blick schweifte über die Dächer der Häuser, ehe er nach unten sah. Zwölf Stockwerke tiefer befand sich eine dreckige Gasse. Zu schmal für das Sprungtuch der Feuerwehr. Und menschenleer. "Wer sind Sie?!" Die Stimme von rechts erschreckte ihn so sehr, dass er fast den Halt verloren hätte. Sie war laut, aber zittrig und gehörte einem kleinen Mann im grauen Anzug, der ihn entsetzt anstarrte. "Wenn Sie mir das ausreden wollen, vergessen Sie's", fügte der kleine graue Mann hinzu, nun eher zornig als zittrig. "Mein Entschluss steht fest!"

Wieder atmete er ein, inzwischen genervt. "Mir ist scheißegal, was du machst", sagte er bissig. Und fügte in Gedanken hinzu: War ja klar, dass irgendein Bekloppter die gleiche Idee hat - schließlich klappt ja nie irgendwas. "Meine Firma ist pleite, ich musste Leute entlassen", lamentierte der kleine graue Mann weiter. "Ich bin am Ende, ich..." "Alter", unterbrach er ihn, "bring's hinter dich. Und hör auf, mir deine Geschichte aufzudrängen." Ich erzähle dir meine ja auch nicht, dachte er. Aber kleiner Spoiler: Ich besitze keine eigene Firma. "Sie haben Recht", sagte der kleine graue Mann und seufzte. "Spielt ja auch eigentlich keine Rolle." "Eben. Und jetzt mach hin - dass wir hier nebeneinander stehen, ist würdelos genug." Mittlerweile waren zwei sichtlich angetrunkene Obdachlose auf sie aufmerksam geworden und deuteten aufgeregt nach oben. Der kleine graue Mann rückte seine Krawatte zurecht. "Hetzen Sie mich nicht." Er sah ihn vorwurfsvoll an. "Außerdem war ich zuerst hier."

Langsam wird das hier absurd, dachte er. "Oh, sorry - mir war nicht klar, dass man den idyllischsten Platz zwischen Spinnweben und Taubendreck reservieren muss", antwortete er ironisch. "Nun spring schon!" Seine laute Stimme ließ die kleine Menschengruppe unten zusammenzucken. Die beiden Besoffenen hatten mittlerweile Gesellschaft von zwei jungen Skatern, dem Inhaber der Pfandleihe am Ende der Gasse und einem halben Dutzend Passanten. Drei von ihnen telefonierten. Einer der Skater filmte nach oben. Na, großartig. "Wenn du's jetzt nicht hinter dich bringst, taucht hinter uns gleich ein Cop auf und erzählt uns, wir seien ihm wichtig." Eine Taube kackte ihm auf den Fuß. "Vielleicht", sagte der kleine graue Mann nachdenklich, "vielleicht stimmt das ja sogar. Vielleicht sind wir jemandem wichtig. Es könnte doch ein Zeichen sein, dass wir uns hier treffen. Ein Wink des Schicksals."

Heilige Scheiße. "Dem Schicksal, mein Freund, sind wir absolut gleichgültig." Er betonte jedes Wort, und der kleine graue Mann wich einen Schritt zurück, weiter nach rechts auf dem Fenstersims. "Nichts in meinem Leben läuft gut. Gesundheit, Job, Geld, Liebe - überall nur Pech. Und als ich es nicht mehr aushalte, steht Mr. Unscheinbar neben mir und kriegt kalte Füße. Das ist alles ein Fest!" Seine Stimme war nun sehr laut, und mit einer Hand musste er sich am Fensterrahmen festhalten, um nicht vor der neugierig nach oben starrenden Meute auf das Kopfsteinpflaster zu knallen. Obwohl das ja eigentlich sein Ziel war, schien ihm der Zeitpunkt ungeeignet. Erst klären wir, dass es so etwas wie Fügung nicht gibt.

Er holte wieder Luft, nicht tief und ruhig, sondern um weiter zu brüllen. Der kleine graue Mann unterbrach ihn mit fester Stimme: "Glauben Sie, was Sie wollen. Ich weiß, dass Sie mich vor einem schrecklichen Fehler bewahrt haben." Er lächelte. "Und dafür danke ich Ihnen." Mit einer ungelenken Bewegung kam er etwas weiter auf ihn zu, hangelte sich jedoch in das Fenster in seiner Nähe. Bevor er es schloss, steckte er noch einmal den Kopf heraus: "Tun Sie es nicht." Er lächelte wieder. "Sie sind ein guter Mensch."

Vielleicht ist genau das das Problem, dachte er, als er den kleinen grauen Mann in der Hochhauswand verschwinden sah. Unten hatte sich ein Feuerwehrfahrzeug in die enge Gasse geschoben, und die Einsatzkräfte machten die Drehleiter bereit. "Großartig", presste er zwischen den Zähnen hervor. "Sogar dazu bin ich zu blöd." Wenn er jetzt sprang, würde er auf der halb ausgefahrenen Leiter landen. Bei seinem sprichwörtlichen Glück würde er sich dabei alle Knochen brechen, aber überleben. Und dann? Langsam kroch wieder in sein Bewusstsein, weshalb er den Entschluss gefasst hatte, aus dem 13. Stock zu springen. Andererseits... Was, wenn der kleine graue Mann sich nicht geirrt hatte? Vielleicht war ihre Begegnung tatsächlich kein Zufall. Vielleicht war es besser, sich seinen Problemen zu stellen statt mit einem Sprung vor ihnen zu fliehen.

Als er zu dem Feuerwehrmann auf die Leiter kletterte, sagte er resigniert: "Sowas erlebt ihr bestimmt auch nicht alle Tage - ein Irrer redet dem anderen aus, sich vom Hochhaus zu stürzen." Sein mürrischer Retter sah ihn fragend an. "Was meinen Sie?" "Na, den anderen Kerl neben mir auf dem Fenstersims." Der Feuerwehrmann guckte verständnislos. "Da war niemand. Sie standen da oben, haben mit sich selbst gequatscht. Und geschrien." Sie kletterten von der Leiter. "Aber... der kleine graue Mann..?" Der Feuerwehrmann schüttelte den Kopf und reichte ihm die obligatorische Decke. "Ehrlich, Mann - da waren nur Sie." Mit einem Grinsen fügte er hinzu: "War bestimmt Ihr Schutzengel." Ein kleiner Mann im grauen Anzug. Klar.

"Bestimmt", sagte er leise. "Das ist mal wieder typisch." Er sah die schmale Gasse entlang, vorbei am Feuerwehrauto und den Schaulustigen, auf die Stadt. Er musste lächeln, als er ruhig und tief einatmete. Zum vierten Mal an diesem verrückten Tag.

Mittwoch, 10. Juli 2019

In aller Kürze

Da hing er also, am Abgrund, kurz vor dem Sturz in die Tiefe. Verzweifelt zappelte er, hielt er sich mit einer Hand fest und flehte mich an: "Zieh mich hoch! Bitte!" Vorsichtig trat ich einen Schritt näher an die Schlucht und blickte in die endlose Dunkelheit. Der Wind kühlte mein Gesicht, als ich die Augen schloss und lächelte. Dann bückte ich mich zu ihm herunter und flüsterte: "Guten Flug."

...

Die Beleuchtung der Mikrowelle brachte etwas Helligkeit in die dunkle Küche. In ihr Leben. Sie atmete tief und ruhig, als sie zusah, wie das Essen sich erwärmte. Das Brüllen aus dem Wohnzimmer ignorierte sie. Zum ersten Mal seit 30 Jahren. Als das Licht erlosch, nahm sie die Mahlzeit heraus, zog ein grünes Fläschchen aus der Kittelschürze und würzte nach. Sie hob den Teller an und schnupperte. Tatsächlich: völlig geruchlos. Und schmecken würde er sicher ebenfalls nichts. Als sie dem Brüllen entgegenging, freute sie sich auf die baldige Stille.

...

Er wollte schreien, aber das ging nicht. Der Strick um seinen Hals schnürte ihm die Luft ab. Dabei hätte schreien sicher gut getan. Die Angst rauslassen. Und den Schmerz, denn das laute Knacken seines Genicks ging einher mit heftigen Stichen, die bestimmt dafür gesorgt hätten, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Allerdings verhinderte die Kapuze über seinem Kopf ohnehin, dass er etwas sah. Aber hören konnte er. Die Stimme des Henkers dröhnte in seinem Kopf. "Möge Gott deiner verdammten Seele gnädig sein", sagte sie. "In der Hölle sollst du schmoren für deine Untaten." Hätte er doch nur schreien können. "Ich bin unschuldig", hätte er gerufen. "Ihr macht einen schrecklichen Fehler", hätte er gebrüllt. Nichts wollte er in diesem Moment so sehr wie schreien. Doch, etwas schon: Er wollte atmen. Aber das ging nicht.

...

Der Keller. Schon immer hatte sie Angst gehabt, dort hinunter zu gehen. Die Spinnweben, der Dreck, die Kälte. Die Dunkelheit. Aber nun war sie kein Kind mehr, und es konnte doch wirklich nicht wahr sein, dass sie seit dem Tod ihrer Eltern nicht im Keller gewesen war. Seit fast zwölf Jahren. Die einzige Glühbirne am unteren Ende der schiefen Holztreppe flackerte. Aber immerhin: Ganz dunkel war es nicht. Mit jedem zögernden Schritt sah sie mehr vom zugestellten Kellerraum. Jedes Flackern brachte diffuses Licht in eine andere düstere Ecke. Schließlich war sie unten angekommen. Es roch moderig, nach Verfall. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie sich vorsichtig um. Die alte Truhe. Das kaputte Regal. Das verrostete Fahrrad. Dann plötzlich ging das Licht aus. Die Dunkelheit war zurück. Sie hörte ein seltsames Kichern. Und spürte eine kalte Hand an ihrer Schulter.

Mittwoch, 20. März 2019

In Zukunft

Als in Ehren ergrauter Veteran habe ich schon viel gesehen und noch mehr gehört. Irgendwann denkt man dann, die Musikgeschichte steuere auf ihr Ende zu. Alles schon mal dagewesen. Und wo ist überhaupt der Nachwuchs?

Da ist es gut, dass es das Internet gibt. So erfahren nämlich auch in Ehren ergraute Veteranen, wenn sich was tut in entlegenen Ecken der Welt. Wenn beispielsweise eine achtjährige Schlagzeugerin in Japan und ein neunjähriger Gitarrist in Australien mal eben rocken wie nix. Und dabei Spaß haben.

Genug gelesen, jetzt wird geguckt, gehört und gestaunt. Gänsehaut galore. Hier ist Yoyoka Soma:



Und hier ist Taj Farrant:

Dienstag, 26. Februar 2019

Herzensangelegenheiten

"Turn my seasons turn
Lived in much younger times
Left no life no more
For me to shine."
Mark Hollis: "Inside Looking Out" (1998)

Tausendfüßler, Eulen und ein Fuchs - was die Nacht verbirgt, will nicht gesehen werden. Und wer im Dunkeln eine Sonnenbrille trägt, will nicht sehen. Sunglasses at night. Ich liebte Musik, auch mit zwölf schon, und der einzige Weg, sie nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen, war "Formel Eins", jene heute zum Kult verklärte Musikvideosendung im Fernsehen. Einmal saß darin ein dünner, blasser Mann am Klavier, mitten im Wald, Haarsträhnen fielen im Rhythmus von Schlagzeug und Tasten über die schwarzen Gläser, die seine Augen verbargen. Und er sang verzweifelt darüber, dass das Leben sei, was man daraus mache.

Das klang so ganz anders als jene Popmusik, die ich seinerzeit in- und auswendig kannte. Das war trauriger als Depeche Mode, wütender noch als Killing Joke und viel mehr Kunst als Duran Duran. Da kämpfte jemand gegen die schlechten Dinge, die im Leben nun mal passieren. Gegen die Art, wie man ein Klavier normalerweise spielt. Und offenbar auch gegen sich selbst. Ich starrte auf Mark Hollis, weil der ein Licht angezündet hatte. Und ahnte schon damals, dass er es hasste, angestarrt zu werden.


Talk Talk war immer die Band für die etwas zu Cleveren, die nichts anderes hatten, als sich etwas darauf einzubilden. Klar - das waren Hits, die liefen im Radio und passten klanglich durchaus in ihr Jahrzehnt, das heute noch mehr verklärt wird als erwähnte Fernsehshow. Doch während Marian Gold alberne Lederhandschuhe trug und darüber sang, hoffentlich für immer jung zu sein, ging es in Hollis' Liedern um den Verfall. Während Cyndi Lauper verkündete, dass Mädchen einfach Spaß haben wollen, stellte er trotzig fest, dass das Leben sein Leben war und man das nicht vergessen sollte. Und während Corey Hart behauptete, nachts eine Sonnenbrille zu tragen, um das Licht sehen zu können, löschte Mark Hollis die Kerze. Sie hätte nur den Fuchs vertrieben, die Eulen und die Tausendfüßler.

"Spiele keine Note, bevor du nicht einen guten Grund dafür hast." Kluge Sätze wie diese sagte er in den Interviews, die für einen introvertierten Geist wie ihn eine Qual gewesen sein müssen. Es ist der Rhythmus seiner Songs, den ich bis heute verehre, die perfekte Tonspur dafür, noch ein bisschen weiterzumachen. Und es sind die Töne, die nicht gespielt werden. Das Dazwischen. Der Atem und die Atmosphäre. Das Leben, das der dünne, blasse Mann mit der verzweifelten, zweifelnden Stimme reinpumpte. Das war zunächst Pop, aber es war eben auch Kunst. Man durfte sich was drauf einbilden, nicht nur die Hits zu lieben, sondern die Alben.

Und irgendwann war es kein Pop mehr. Die Welt der glänzenden Oberflächen hatte Mark Hollis verloren, ihm selbst war sie von Anfang an egal gewesen. Jazz kam zu seinem Recht, auch Klassik, Avantgardistisches, immer öfter die Stille. Mit seinem einzigen Solowerk ging er nie auf Tour. Das wäre unmöglich gewesen, erklärte er damals in einem der nun sehr seltenen Interviews. Nicht auszudenken, hätte jemand vor der Bühne gehustet.

Dann verschwand er endgültig im Dunkel. Fans hielten sich tapfer auf dem Laufenden darüber, wenn er mal den einen oder anderen Ton oder das eine oder andere Schweigen zur Arbeit von Kollegen beisteuerte. Und trösteten sich damit, dass er nun wohl die Ruhe gefunden hatte, nach der er sich so sehnte. Nun ist Mark Hollis tot. Passenderweise war es zunächst nur ein unbestätigtes Gerücht, achtsam dahingetupft wie ein Tastendruck am Klavier. Dann wurde es ein lauterer Akkord, denn die Verlierer von früher, die Anhänger seit damals sind mehr als sie dachten. Und letztlich war es Gewissheit, fand die Musik ein Ende.

Am Schluss des Videos zu "Life's What You Make It" geht die Sonne auf, verjagen ihre sanften Strahlen den Nebel und den Tau und die Tiere der Nacht. Everything's all right. Ich erinnere mich sogar noch daran, was ich damals dachte, als ich ihn zum ersten Mal sah und hörte. "Der fühlt sich nicht wohl", dachte ich. "Der fühlt sich wie ich."


Mittwoch, 13. Februar 2019

Gemeinsam. Eine Kurzgeschichte.

Er öffnete die Augen. Das leise Summen vom Dach hatte ihn geweckt, vor allem aber die Stimme seiner Frau. Ihr Lachen. "Komm schon, Brummbär", rief sie ihm von der Tür aus zu. "Das Taxi wartet. Du wolltest dich doch nur kurz hinlegen." Er bereute nicht, die Augen geöffnet zu haben. In all den Jahren, die sie sich nun kannten, hatte Karen sich kaum verändert, war ihr Lächeln noch immer das Schönste, was er je gesehen hatte. An der Uni war es ihm zum ersten Mal aufgefallen. Und noch immer konnte er sein Glück kaum fassen, dass diese Frau nun seine Frau war. Die Jungs lachten manchmal darüber, dass auch 15 Jahre Ehe ihrer Verliebtheit nicht geschadet hatten. Nun jedoch warteten sie bereits im Flugtaxi auf dem Dach auf ihren Dad, den Brummbären - darauf, endlich zum Flughafen und in die Ferien starten zu können. Karen lachte noch einmal und ging dann ebenfalls die Treppe hinauf und dem Summen der Rotoren entgegen.

Er streckte sich und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, ehe er aufstand. Für Ende 40 hatte er sich gut gehalten. Seine Gesundheit war ihm wichtig. Er ernährte sich ausgewogen, trieb viel Sport. Man hatte nur ein Leben. Es war wertvoll. Niemand wusste das besser als er. Auf seine Fitness war er fast so stolz wie auf die anderen Ziele im Leben, die er erreicht hatte. Toller Job, tolles Haus, eine tolle Frau und zwei tolle Söhne. Glück, das er tatsächlich kaum fassen konnte. Obwohl es das war, was er am meisten wollte: das Glück fassen. Festhalten. Nicht mehr loslassen. Denn die Perfektion hatte kleine, kaum sichtbare Risse. Und durch diese fiel ein dunkler Schatten, der verhinderte, dass er wirklich glücklich war. Sein Herz, das für seine Familie schlug und für seine Arbeit als Physiker und für die Menschen, die er in seinem Leben getroffen hatte, war voller Furcht. Voller Angst davor, dass alles plötzlich vorbei sein konnte. Er zog sein Jackett an, die Schlafzimmertür hinter sich zu und betrat die Treppe zum Dach. Vor ihm lagen drei Wochen in Kalifornien, voller Sonne und Spaß. Er hoffte, endlich einmal vergessen zu können, was ihn belastete. Die Furcht in seinem Herzen. Auf der dritten Stufe hörte es plötzlich auf zu schlagen. Verflucht, dachte er, wenn es wenigstens ein Infarkt wäre.

Er ließ die Augen geschlossen. Das leise Summen des Weckers sollte ihn wachrütteln. Aber er war längst wach, kniff die Augen zusammen, um nicht sehen zu müssen, was um ihn herum war. Er kannte es ohnehin schon: sein Kinderzimmer. Die Raumschiff-Modelle, der Football in der Ecke, die Klamotten auf dem Boden, die verstimmte Gitarre, die unter seinen Füßen auf dem Bett lag. Er kannte jeden Winkel dieses Raums, weil er hier die ersten 16 Jahre seines Lebens verbracht hatte. Weil er hier jeden Morgen aufgewacht war. Und weil er einen Morgen in diesem Zimmer nun schon zum 38. Mal erlebte. Mühsam unterdrückte er die aufkommende Panik, riss schließlich die Augen auf, wie man ein Pflaster mit einem Ruck abreißt. Er langte mit einem Arm rüber zum Wecker und drückte auf die Taste, um das Summen verstummen zu lassen. Mit seinem Arm. Dem eines 16-jährigen Jungen, mager statt trainiert, kaum behaart und mit einem albernen Schweißband versehen. Den Blick in den Spiegel vermied er, als er sich aus dem Bett wälzte. Er wusste, wie er aussah. Wieder aussah. Er kannte die hagere Figur eines blassen Teenagers, der zu viel Zeit damit verbrachte, im dunklen Zimmer auf der Gitarre zu klimpern. Und zu wenig damit, Football zu spielen, Sport zu treiben, zu lernen, etwas aus seinem Leben zu machen. Naja, dachte er verbittert, ein neuer Morgen, eine neue Chance. Dann schoss ein schmerzhafter Blitz durch sein Herz, sein kaputtes Herz, eigentlich ein unerfahrenes Herz, das eines Teenagers und eines Mannes. Sein Herz, das seine Frau vermisste und die Kinder, sein altes Leben, das streng genommen nun wieder sein zukünftiges war. Eine mögliche Zukunft, das hatte er während des Studiums verstanden. Eine, die es so vermutlich gar nicht geben würde. Der Flügelschlag eines Schmetterlings vor dem geschlossenen Fenster konnte verhindern, dass er Karen je traf. Dass seine Söhne jemals geboren wurden. Und selbst wenn - wie lange würde er diesmal fast glücklich sein?

Er kniff die Augen zusammen, als nach Angst und Schmerz nun Wut in seinem Herzen wuchs. Mit knochigen Teenie-Fingern griff er zum Handy, das ihm merkwürdig altertümlich vorkam. Statt die Nummer zu sagen, die er so gut kannte, musste er sie mühsam eintippen. Und statt eines Hologramms spuckte es lediglich eine nur zu vertraute Stimme aus. Eine verhasste Stimme. Die Stimme seines besten Freundes seit Kindertagen. "Hast lang nichts von dir hören lassen", sagte sie. Und dann lachte Ben, sein Kumpel, sein Leidensgenosse. Und er hasste es noch mehr als er Karens Lachen geliebt hatte. "Wir müssen uns sehen, Arschloch", hörte er sich sagen, mit dieser längst vergessenen Teenager-Stimme. "In einer halben Stunde."

Er blinzelte in die Sonne. Ben war natürlich unpünktlich. Er war ohnehin das genaue Gegenteil von ihm selbst: egoistisch, draufgängerisch, manchmal skrupellos. Dazu kräftig und mit einem übergroßen Selbstbewusstsein ausgestattet. Einzig intellektuell waren die beiden ungleichen Freunde sich ebenbürtig. Während er jedoch zumindest theoretisch die Möglichkeit gehabt hätte, einen guten Schulabschluss zu machen und die Uni zu besuchen, schlug sich der ein Jahr ältere Ben mit Gelegenheitsjobs durch, von denen die meisten illegal waren. Zwar erzählte er allen, die es hören wollten oder auch nicht, dass er nie wie sein verhasster Vater, ein Säufer und Schläger, im Knast enden wollte. Dennoch war er auf dem besten Weg dahin. Und das ist keine mögliche Zukunft, sondern beschlossene Sache, dachte er zynisch, als Ben sein Fahrrad auf den Boden fallen ließ und sich grinsend näherte. Warum die beiden Freunde geworden waren? Vermutlich, weil ein erfolgloser Gitarrist ohne Band froh darüber ist, wenn ein kleiner Ganove etwas Abwechslung in seinen tristen Alltag bringt. Und weil Außenseiter am besten zusammen durchs Leben gehen sollten. Gemeinsam.

Er riss die Augen auf, als er Ben anschrie: "Du verdammter Wichser! Was hast du getan?!" Sein Kumpel grinste freudlos: "Sachte, Mann. Glaubst du, ich bin gerne hier?" Er hockte sich auf einen Stein und zündete eine selbst gedrehte Zigarette an. "Ein kleines Geschäft ist schiefgelaufen, jemand wurde nervös und - bäng! Alles auf null. Spiel dich bloß nicht auf - du warst oft genug schuld daran dass es mir so ging." Während Ben selbstgefällig an der Kippe zog, dachte er an jenen Tag vor fast 40 Jahren, der eigentlich gestern war. Als er und Ben diesen seltsamen grünen Stein entdeckt hatten, unten bei der alten Mühle. Als sie ihn berührt hatten, als er geleuchtet hatte. Und er dachte daran, wie er seitdem immer und immer und immer wieder in seinem Zimmer aufgewacht war, wie der Wecker summte und den ewig gleichen Tag ankündigte. Nach dem Unfall mit dem Truck. Nach dem Sturz in den Steinbruch. Nach dem Streit mit den Jugendlichen, von denen einer ein Messer hatte. Nach dem völlig verblödeten Versuch, unbewaffnet eine Bank auszurauben. Und nach anderen noch blöderen Ideen von Ben. Irgendwann hatten sie festgestellt, dass sie nicht nur das gleiche Schicksal teilten, sondern dass der leuchtende Stein - der seltsamerweise verschwunden war - auch dafür sorgte, dass ihre Leben für immer und ewig aneinander gekettet waren. Starb Ben, starb auch er - und wachte wieder an jenem quälenden Morgen auf. Und für Ben galt dasselbe. Dann, nach Tränen und Wut und Verzweiflung und Leichtsinn und Akzeptanz war ihnen der Gedanke gekommen, sich zu trennen. Tatsächlich schien das zu funktionieren. Einmal schafften sie fast vier Jahre. Und zuletzt beinahe 33. Bis Ben "ein kleines Geschäft" vermasselt hatte.

Er schloss die Augen, seufzte und sagte leise: "Ich hasse dich so sehr." Ben lachte noch einmal freudlos und antwortete: "Dito." Dann klopfte er sich hörbar den Staub der Landstraße von der Jeans. "Aber ich habe eine Idee. Die wird dir gefallen. Mir gefällt sie." Er öffnete ein Auge: "Deine Ideen hasse ich auch." "Hör doch erstmal zu", meinte Ben, die Zigarette im Mundwinkel. "Diese holt uns hier raus. Endgültig." "Glaubst du nicht, wenn es einen Weg aus diesem Alptraum gäbe, hätte ich ihn gefunden?", fragte er, öffnete auch das andere Auge und wischte eine Träne weg. "Ich bin Doktor der Physik, verdammt! Ich habe was aus meinem Leben gemacht... Meine Familie fehlt mir, du verfluchter Penner!" "Du bist ein 16-jähriger Junge", erinnerte Ben ihn mit kalter Stimme. "Schon klar - du hast brav gelernt und studiert und Kohle gescheffelt und die große Liebe kennen gelernt." Er schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch und verkündete: "Aber ich war auch nicht untätig. Ich habe mir alles in die Nase und die Venen gejagt, das ich finden konnte. Und ich hab alles gevögelt, was sich bewegt hat. Und ob du es glaubst oder nicht: Manchmal habe ich sogar ein Buch gelesen." "Halt die Klappe", sagte er resigniert, "halt endlich deine große Klappe." "Hast du", fuhr Ben ungerührt fort, "mal von Yin und Yang gehört? Die Schlitzaugen glauben diesen Quatsch. Die beiden sind fast wie wir: total unterschiedliche Seiten derselben Medaille. Du bist der nette Kerl, ich bin das verdammte Arschloch, und wir beide hängen gemeinsam in dieser Scheiße und kommen auch nur gemeinsam wieder raus." Er dachte an Karen, an ihr Lachen, das er nie wieder hören würde. Gemeinsam. Allein das Wort klang wie eine Drohung. "Ich verspreche dir nicht, dass all deine Träume wahr werden", hörte er Ben weiter schwadronieren. "Ich bin wie gesagt nicht der Nette von uns beiden. Aber ich verspreche dir einen souveränen Abgang. Und ein Ende dieses - wie hast du gesagt? Dieses Alptraums." Langsam verstand er, worauf Ben hinauswollte: Das Ende würde das Erwachen sein. Nur dass diesmal nicht der ewig gleiche Tag folgen würde, sondern... nichts. Zumindest hatte sein Physikstudium ihn das gelehrt. "Was hast du bloß vor?", fragte er. Ben antwortete, nachdem er den Zigarettenstummel an der Sohle seines Stiefels ausgedrückt hatte: "Wir bringen uns gegenseitig um. Wir sterben gemeinsam. Zum letzten Mal."

Er zwinkerte, hörte seinen eigenen Herzschlag, sah Karens Lächeln vor sich. "Und wie soll das gehen?" Seine fremde Teenie-Stimme klang seltsam tonlos. "Hiermit", knurrte Ben und zog zwei Revolver aus den Taschen seiner Lederjacke. Schwarzes Leder, schwarzes Metall. Und hoffentlich eine schwarze Zukunft. Kein Summen mehr. Zögernd nahm er eine der schweren Schusswaffen. Er wusste, wie man sie benutzte. Zweimal hatte er versucht, mit so etwas seinem Leben ein Ende zu setzen. Das Ergebnis: der Wecker, das Summen, Raumschiff-Modelle, Football, Gitarre. "Der Trick ist", erklärte Ben, "dass wir gleichzeitig abdrücken. Bist du bereit? Auf drei. Oder hast du noch irgendwelche letzten Worte zum Abschied für deinen alten Kumpel?" "Ich hasse dich", sagte er, nun mit festerer Stimme. "Ich wünschte, wir wären tot." Sie stellten sich drei Meter voneinander auf und sahen sich in die Augen, der schüchterne Schlacks und der stämmige Gauner. Ben zählte: "Eins. Zwei. Drei!" Es knallte, eigentlich zweimal, aber es klang wie einmal. Es roch nach Rauch. Dann vertrieb ein blutroter Stich die Angst und den Schmerz und die Wut aus seinem Herzen. Es hörte auf zu schlagen. Gemeinsam, dachte er. Und schloss die Augen.

Donnerstag, 24. Januar 2019

Im Kopf

Ich glaube, wir leben im Zeitalter der Grenzen. Vielleicht ist das die Reaktion auf Globalisierung und Nachrichtenverfügbarkeit, auf eine Welt, die für jeden immer komplizierter wird, weil sie in ihrer Komplexität sichtbar geworden ist, wo Medienkompetenz und Verständnis langsam aussterben. Da geben Grenzen natürlich Sicherheit, da ziehen viele sich zurück in einen überschaubaren Rahmen, in dem sie sich geborgen und zu Hause fühlen, den sie überblicken können.

Global betrachtet ist das selbstverständlich negativ: Der Nationalismus ist aus dem fruchtbaren Schoß gekrochen und bringt fast überwundene Vorurteile und gefährlichen Hass mit sich, wo doch erst vor kurzem die Grenzen gefallen sind. Die demente Orange fabuliert von ihrer Mauer, den Briten reicht es nicht, nur geografisch eine Insel zu sein, die Gesellschaft spaltet sich freiwillig und unfreiwillig. Man rottet sich zu Stämmen zusammen, sucht nach Unterschieden, obwohl Gemeinsamkeiten die Lösung wären.

Der Blick über den Tellerrand macht manchen Angst, weil Fremdes immer eine Herausforderung darstellt. Was anders ist oder neu, will entdeckt und verstanden werden, bringt Veränderung mit sich und schafft dadurch Verunsicherung. Da guckt man lieber nur auf sich, ignoriert überheblich, wenn man andere stört oder beleidigt, wird aggressiv und egozentrisch.

Und ein bisschen gilt das für jeden von uns, vor allem im Netz: Auf Facebook sehen wir nur, was der Algorithmus unserer persönlichen Vorlieben uns präsentiert, der Online-Versandhandel zeigt uns, was unserem Kaufverhalten entspricht, der Streaming-Dienst kennt unsere liebsten Freizeitaktivitäten, die Worterkennung unsere Formulierungen - und letztlich sitzt jeder an seinem eigenen PC, guckt auf sein eigenes Smartphone oder Tablet. Ich nehme mich da nicht aus: Als eher introvertierter Charakter brauche ich meinen Rückzugsort, wenn mich das bunte, laute Leben draußen mal wieder überfordert. Und wenn ich an dieser Stelle auf Nazis schimpfe, Musik teile oder meine Meinung über Filme aufdränge, freuen mich natürlich die positiven Reaktionen meiner Filterblase, meiner Social-Media-Hood, meiner Freundesliste.

Aber vielleicht schadet es nicht, sich ab und an klarzumachen, dass wir alle in Grenzen leben. Sozial, politisch, auch emotional. Und dass man die der anderen respektieren und nicht ungefragt übertreten sollte. Ebenso vielleicht könnte es andererseits sinnvoll sein, größere Grenzen immer wieder zu hinterfragen. Die mit den Schlagbäumen und dem Stacheldraht, die zwischen Bevölkerungsgruppen oder Religionen, die verhindern, dass wir wirklich zusammenleben.

Kurz: leben und leben lassen. Eigentlich ist es ganz einfach.