Mittwoch, 23. Dezember 2020

An Weihnachten

"Du hast leicht reden", sagte der Schachspieler, der die schwarzen Figuren bewegte, ohne den Blick vom Brett zu nehmen. "Du bist immerhin der Held in unserer Geschichte. Du und dein schlecht gelaunter Kumpel." "Ich sage ja nur, dass es ganz so einfach eben nicht ist", meinte der Schachspieler, der die weißen Figuren bewegte, und rückte mit seiner Dame vor. "Immerhin wurde nach meinem Tod meine Lebensgeschichte komplett geändert."

"Schon klar, die Sache mit der Limo", knurrte sein Gegenüber. "Aber dein Mythos ist wenigstens positiv und freundlich - lustige Rentiere, schicke rote Klamotten, Kinder freuen sich... Da juckt wirklich niemanden, dass man dir ursprünglich mal einen Heiligenschein angedichtet hat." Er schob zögerlich einen Bauern über das Schachbrett. "Du vergisst da etwas", antwortete sein weißbärtiger Gesprächspartner und lächelte, als der andere erstaunt den Kopf hob. "Du vergisst, wieviel Arbeit ich habe. Zwei volle Nächte pro Jahr bin ich unterwegs, in verpesteter Luft, trotz Zentralheizungen und sogar jetzt, wenn die da unten sich gegenseitig das Lebenslicht aushusten. Das ist doppelt soviel Arbeit wie früher, als der Juniorchef noch eine Tour übernommen hat, wenn er mal wieder seine kindliche Phase hatte."

"Du Armer", grunzte sein Gegner ironisch. "Ich wurde über die Jahrhunderte degradiert - früher waren meine Leute in den Augen der Menschen sowas wie dein Boss. Heute taugen wir allenfalls als Kinderschreck, wenn die lieben Kleinen nicht parieren wollen. Apropos..." Er parierte mit einem Läufer den jüngsten Zug seines Gegenübers, was diesen zu einem Seufzen veranlasste. "Einer muss den Job nun mal machen", sagte der Bärtige, schob eher achtlos einen Turm nach vorne und erhob sich. "Das ist mein Stichwort - ich muss los. Und nun lach mal wieder, Krampi. Es ist Weihnachten." Während er durch den Schnee zu seinem Schlitten stapfte, machte der andere seinen Zug und murmelte: "Arschloch." Dann rief er ihm hinterher: "Übrigens, Santa - schachmatt!"

Sonntag, 20. Dezember 2020

Meine vierte Weihnachtsgeschichte

Meine vierte Weihnachtsgeschichte: Ich musste eine Weile überlegen, ehe mir tatsächlich ein weiteres weihnachtliches Erlebnis einfiel. Und ich bin gar nicht sicher, ob ich in der Erinnerung nicht vielleicht zwei Ereignisse zu einem mache oder einige Akteure falsch zuordne. Wenn man viele Winter erlebt hat, kommt das schon mal vor. Jedenfalls hat sich wohl Folgendes so oder so ähnlich zugetragen: Als meine Verwandtschaft noch deutlich umfangreicher besetzt war als heute, wurden die Feiertage bisweilen gemeinsam begangen. Man besuchte sich gegenseitig, es ging tatsächlich mehr um das Zusammensein als um Geschenke.

Es mag Ende der 80er Jahre gewesen sein, als eines jener Treffen bei uns zu Hause stattfand. Man platzierte sich gut gelaunt am Esstisch, um im gewohnten 30-minütigen Rhythmus ein Festtagsmahl einzunehmen. Weihnachten in dieser Konstellation bedeutete seinerzeit auch sinnlose Völlerei. Um dem juvenilen Jesus nicht nur durch stete Kalorienzufuhr, sondern auch angemessen erleuchtet zu huldigen, stapfte mein Vater als Herr des Hauses entschlossen auf unseren altgedienten Plastik-Christbaum zu und drehte an einer der elektrischen Kerzen, um selbigen in all seiner Spät-80er-Pracht erstrahlen zu lassen. Allein: Es blieb vergleichsweise dunkel. Nicht ein einziges der brandsicheren Kerzenimitate tat seinen Dienst. Natürlich konnte mein alter Herr als versierter Heimwerker das nicht auf sich sitzen lassen. Und so begann er, jede der etwa 50 kleinen Lampen einzeln zu untersuchen und mit seinem legendären Schraubendreher - der seit Jahrzehnten den Kampfnamen "der kleine Dicke" trug und noch immer trägt - abzuklopfen. Nach einer Weile trat mein ältester Bruder - seines Zeichens gelernter Elektriker - an seine Seite. Und kurz darauf sah sich der Kunststoffbaum umringt von einem halben Dutzend motivierter Experten, die ihn ausgiebig betrachteten und befingerten. Heller wurde es davon jedoch nicht.

Meine Nichte war damals zehn Jahre alt und hatte sich die Operation "Es werde Licht" die ganze Zeit über interessiert angeschaut. Nachdem sie zunächst ein halbes Stück des "Hühnerfutterkuchens" meiner Mutter (ich erkläre gerne auf Nachfrage, was das ist) gegessen hatte, deutete sie mit ihrer Gabel auf die Steckdose und äußerte einen Vorschlag: "Steckt doch mal den Stecker rein." Was soll ich sagen? Mit Strom funktioniert elektrisches Licht tatsächlich am besten. Und das war auch in den 80ern schon so.

Sonntag, 13. Dezember 2020

Meine dritte Weihnachtsgeschichte

Meine dritte Weihnachtsgeschichte: Irgendwann in den 90ern hatte der Nikolaus (der eigentlich der Weihnachtsmann war) offenbar sämtliche Orte auf der Welt persönlich besucht - als Ergänzung zu seinem etablierten Konzept, Geschenkpakete durch Schornsteine zu drücken. Nur ein kleines Dorf in Mittelhessen hatte er bislang ausgelassen.

Das konnte der örtliche Lebensmittelmarkt natürlich nicht hinnehmen und engagierte daher einen Nikomann-Stellvertreter, um die gleichfalls örtliche Landbevölkerung gar festlich zu unterhalten. Insbesondere der Nachwuchs sollte daran erinnert werden, dass es sich lohne, brav zu sein statt rebellisch. Am 6. Dezember wurde der Parkplatz des Unternehmens daher geräumt, sämtliche Einwohner versammelten sich, und zum vereinbarten Zeitpunkt landete ein Hubschrauber. An Bord: der Weihnachtslaus-Doppelgänger. Als dieser den Heli verließ, um die erwartungsvoll glühenden Kleinen zu begrüßen, dauerte es handgestoppte anderthalb Sekunden, bis das Gelände komplett entvölkert war. Die Kinder rannten brüllend zu ihren Eltern, überall Geschrei, Tränen, Panik. Selten war eine Idee der Marktleitung derart krachend gescheitert (und wir reden über einen Laden, in dem Südfrüchte unter "regional" einsortiert werden).

Statt eines beleibten älteren Herrn mit weißem Bart hatten die Organisatoren nämlich einen mageren Studenten angemietet. Und der trug nicht nur schlotternde rote Frotee-Bekleidung, sondern vor allem eine ebenso schlecht sitzende Plastikmaske, die sein Gesicht zu drei Vierteln bedeckte. Stellt euch Doctor Doom mit Fusselbart vor oder das Phantom der Oper in Quarantäne. Jedenfalls nichts, was aufgeregte Buben und Mädel im Äpfel- und Nüsserausch in feierliche Stimmung versetzt. Es war übrigens das letzte Mal, dass der Markt sowas an den Start brachte. Aber seitdem glaubt hier sowieso niemand mehr an den Dings... Niko... Weihnachts... wasauchimmer. Aber alle sind das ganze Jahr über brav. Bestimmt fällt mir noch eine vierte Geschichte ein, die aber ein anderes Mal erzählt werden soll.

Sonntag, 6. Dezember 2020

Meine zweite Weihnachtsgeschichte

Diese Geschichte spielt gar nicht in der Adventszeit, aber immerhin in einer Kirche und zwar im Sommer des Jahres 1986. Ich war 13 Jahre alt, und kurze Zeit darauf verließen meine Eltern und ich jene Kleinstadt am Main. Was im Übrigen nichts mit den geschilderten Ereignissen zu tun hatte, sondern damit, dass mein Vater die Frührente antrat und es ihn und seine Gattin in deren Heimat zog. In diesem Sommer jedenfalls war über ziemlich viel Gras gewachsen, glücklicherweise auch darüber, wie ich als gesprächiger Hirte das Krippenspiel ruiniert hatte. Einzig meine Mutter erinnerte sich noch Jahrzehnte später daran, aber das gehört wohl zu ihrem Job. Nun begab es sich also, dass für mich der zweite Schritt anstand, um ein vollwertiges Gemeindeglied (so nannten die das wirklich, da fehlt leider keine Silbe) zu werden. Zwar hatte ich das Krippenspiel der einen evangelischen Kirchengemeinde veredelt, aber nur, weil ich dort getauft worden war und meine Reli-Lehrerin die Inszenierung übernommen hatte. Denn eigentlich gehörte ich wegen eines Umzugs inzwischen zur anderen evangelischen Gemeinde - und dort sollte ich auch konfirmiert werden.

Für mich die Gelegenheit, meiner eigenen Legende ein erweitertes Publikum zu verschaffen. Und zwar folgendermaßen: Nachdem ich den offenbar traditionellen und obligatorischen Termin beim Fotografen hinter mich gebracht hatte, stand der Konfirmationsgottesdienst auf dem Programm. Die Fotos werdet ihr übrigens niemals sehen, denn ich versuche darauf augenscheinlich, "cool" zu gucken, was für einen pickeligen 13-Jährigen nicht nur kaum möglich, sondern zudem eine sehr dumme Idee ist. In meinem Kopf grinste ich wie Billy Idol, tatsächlich aber einfach nur schief. Zur Feier jedenfalls trugen wir, um das Ende des viel zu langen Konfirmandenunterrichts zu zelebrieren, alberne Klamotten und hatten genau zwei Gedanken in unseren pubertierenden Hirnen: 1. Wann gibt's die Kohle? 2. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Gut, Punkt zwei variierte bei uns zehn frommen Mädlein und Knaben. Und am Wortlaut erkennt ihr: Das ist eines der zehn Gebote. Eins davon musste sich jeder merken und nach Genuss von Messwein und Oblate vor versammelter Gemeinde aufsagen.

Die Reihenfolge war klar festgelegt, weil ein Mädchen in unserer Gruppe eine Lernbehinderung hatte und sich nur das erste Gebot merken konnte. Ich wusste also, solange ich Nummer acht drauf habe, ist alles gut. Gar nichts war gut. Etwa anderthalb Minuten vor Beginn der Show fiel der Guten nämlich auf, dass sie sich nicht das erste, sondern das zweite Gebot merken konnte. Jetzt wäre es ja pfiffig gewesen, sie einfach mit jemand anderem tauschen zu lassen. Aber stattdessen verschoben sich die aufzusagenden Gebote jeweils um eins. Statt der Sache mit dem Lügen war meine Aufgabe also nun die mit dem Haus. Ihr ahnt, was passierte. Als ich an der Reihe war, sagte ich laut und deutlich in die weihevolle Stille: "Du sollst nicht falsch Zeugnis... ach, Scheiße!" Dass ich danach perfekt das neunte Gebot aufsagte, ging ein wenig im anschließenden Tumult unter. Meiner erneut sehr dunkelrot angelaufenen Mutter gelang es übrigens, mir quer durch den Raum mit einem einzigen Blick zu signalisieren, dass sie gedachte, das fünfte Gebot ausnahmsweise zu ignorieren. Es war ein Fest. Spontan fällt mir gerade eine weitere, eine echte Weihnachtsgeschichte ein, aber diese soll ein anderes Mal erzählt werden.

Dienstag, 1. Dezember 2020

Auf der Jagd

Er war auf der Jagd. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Sein Atem gefror in der klaren Nachtluft. Der Vollmond erhellte den Wald. Vor wenigen Minuten hatte er die Witterung aufgenommen, nun folgte er den Spuren, die seine Beute hinterlassen hatte. Zerbrochene Zweige, zertretenes Moos. Keine Herausforderung für einen erfahrenen Jäger. Als er auf die Lichtung trat, atmete er tief ein. Der Geruch war nun ganz nah. Eine Mischung aus Angst und Erschöpfung. Er drehte leicht den Kopf und spannte jeden Muskel. Sein Opfer kauerte sich in den Schatten eines Baums und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Langsam erhob er sich und ließ ein leises Knurren hören. Dann blickte er zum Mond und stieß ein lautes Heulen aus.

Das Heulen war markerschütternd. Verzweifelt krallten sich seine Finger in die Borke des Baumstamms. Was da vor ihm auf der Lichtung stand, schien einem Alptraum entsprungen. Aber die eisige Luft und das helle Mondlicht erinnerten ihn daran, dass er hellwach war. Er nahm allen Mut zusammen und ließ sich nach hinten fallen. Sprang auf und rannte in die Dunkelheit. Weg von dem Heulen, von den Klauen und den Zähnen. Keuchend hetzte er durch das Unterholz. Äste schlugen ihm ins Gesicht, zerrissen seine Kleidung. Sein Atem gefror in der klaren Nachtluft. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Er war auf der Flucht.

Sonntag, 29. November 2020

Meine Weihnachtsgeschichte

Meine Kindheit habe ich in einer Kleinstadt im Rhein-Main-Gebiet verbracht. Für eine echte Stadt zu winzig und provinziell, für ein Dorf zu verbaut und hässlich. Das Leben fand hinter verrosteten Eisenzäunen statt. Gelebte Badesalz-Sketche. Im Alter von elf Jahren wurde ich genötigt, am Krippenspiel einer der beiden evangelischen Kirchengemeinden teilzunehmen. Ich gab wenig enthusiastisch, aber fein nuanciert den zweiten Schäfer von links. Einen Charakter, der durch bloße Präsenz überzeugte.

Auf der Bühne der Gemeindehalle stand eine Pappwand, die ebenfalls etwas darstellte, nämlich den Backstage-Bereich. Nachdem mein Kumpel Robert und ich unseren Auftritt bravourös hinter uns gebracht hatten, verbrachten wir die restliche Dauer des Stücks genau dort. Hinter einem Pappkarton. Auf der Bühne. Vor der die versammelte Gemeinde saß, inklusive sämtlicher Verwandter. Und unterhielten uns angeregt - unter anderem über den aktuellen "Die Spinne"-Comic und eine geplante Radtour. Angeregt und lautstark. Lauter als die eigentlichen Protagonisten, also des späteren Lattengustls erste Geburtstagsgäste. Auf das Publikum muss das mindestens befremdlich gewirkt haben. "Wer seid ihr, Reisende?" "Der Jürgen kommt auch!" "Wir sind die heiligen..." "... zu dritt isses auch lustiger!"

Vermutlich waren wir unserer Zeit voraus und unsere Zuhörer einfach noch nicht bereit für soviel Avantgarde. Wir selbst bekamen gar nicht mit, dass wir bis zur letzten Bankreihe gut zu hören waren. Ich verstand daher weder, warum meine Mutter mich später mit hochrotem Kopf - einer Mischung aus Wut und Scham - erst aus der Halle und dann nach Hause zerrte. Noch konnte ich mir erklären, weshalb die Gattin unseres Pfarrers, die gleichzeitig meine Reli-Lehrerin war, die gleiche Färbung angenommen hatte. Und was ich nicht mal ahnte: Anderthalb Jahre später sollte ich meine Vorstellung locker überbieten. In der anderen evangelischen Gemeinde. Wenn schon, denn schon. Aber das ist eine andere Geschichte, und sie soll ein anderes Mal erzählt werden.

Dienstag, 24. November 2020

Im Konzert

"Es geht eben nix über Livemusik", brüllte er ihr ins Ohr, um gegen die kreischenden Gitarren, wummernden Bässe und dröhnenden Drums anzukommen. "Ja", schrie sie zurück und erwiderte sein Grinsen. Gemeinsam stürzten sie verschwitzt nach vorne, genossen es, eins mit der Musik zu werden. Natürlich kannten sie jeden Text, sagen Zeile um Zeile mit und grölten ausgelassen den Refrain. Wenn sie ihre Haare schüttelten, flogen Schweißtropfen. Sie merkten gar nicht, wie anstrengend das Tanzen war, weil die Töne sie davontrugen, auf einer wilden Flamme, die im Rhythmus zuckte. Die grellen Lichter, die Lautstärke der Instrumente - direkt vor den Boxen zappelten sie ausgelassen zu ihren Lieblingssongs. Plötzlich klingelte es an der Haustür. Rasch griff sie zur Fernbedienung und stellte die Stereoanlage leiser, während er sein Hemd richtete, bevor dem Postboten öffnete. "Wir bestellen zuviel", meinte sie. "Alles aus Langeweile", gab er zu.

Sonntag, 8. November 2020

Im Herbst

"Ich trau mich nicht." Ängstlich guckte sie nach unten. Der Boden war kaum zu erkennen. "Ach was", sagte ihr Nachbar. "Du musst einfach nur loslassen. Ist ganz einfach. Haben Tausende vor dir gemacht. Und es wird auch langsam Zeit." Sie war nicht überzeugt. "Aber was passiert dann?", fragte sie. "Lande ich wirklich weich und treffe alte Freunde wieder?" Der Nachbar wurde ungeduldig. "Natürlich", meinte er. "Und wenn du Glück hast, lernst du vorher noch fliegen." Sie seufzte, nahm allen Mut zusammen und ließ los. Ein Windhauch erfasste sie, sie segelte mehrere Meter durch die Luft und rief: "Hui!" Dann landete sie ganz sanft auf dem Haufen der anderen Blätter und dachte ein letztes Wort: "Winter."

Donnerstag, 5. November 2020

In Schweden

"Ich finde die Dinger gruselig", sagte sie und blickte angewidert auf die Plastikfigur, die seit ein paar Kilometern am Rückspiegel baumelte. "Was ist denn daran gruselig?", gab er zurück, die Augen auf die Straße gerichtet. "Der kleine Kerl ist doch putzig." Er hatte den Troll an der Tankstelle gekauft und verkündet: "Nun sind wir bereit für unsere Tour durch Schweden - Trolle bringen Glück." Jetzt fragte er gut gelaunt: "Warum haben die Kerlchen eigentlich immer solche lustigen Stupsnasen?" Sie grummelte: "Das ist wie mit Gott. Irgendwann hat da jemand entschieden, dass alter Mann mit Bart Kanon ist." Er lächelte.

"Der guckt so unheimlich", meinte sie. "Irgendwie kriege ich Gänsehaut." Der Plastiktroll schien sie mit seinen schwarzen Augen anzustarren, die unter der lila Wuschelfrisur hervorstachen. "Okay, okay, schon verstanden", antwortete er, riss die Figur vom Innenspiegel und warf ihn ins Handschuhfach. "Zufrieden?" "Zumindest beruhigt", sagte sie und machte ein Nickerchen.

Als sie wach wurde, fiel ihr Blick als erstes auf den Troll, der wieder unterm Rückspiegel hing und sie ansah. "Was soll das denn?", blaffte sie. "Wieso hängt der wieder da?" "Keine Ahnung", sagte er und wirkte ehrlich überrascht. "Ist mir gar nicht aufgefallen. Bist du sicher, dass du ihn nicht im Halbschlaf wieder hingehängt hast?" "Ja. Da bin ich ganz sicher." Langsam wurde sie wütend. An der nächsten Raststätte machten sie Halt, und er warf den Troll in eine Mülltonne. Als er den Motor anließ, sagte er: "So, das dürfte geklärt sein." Sie sah aus dem Seitenfenster und betrachtete die schwedische Landschaft.

Einige Kilometer weiter fuhr er plötzlich an den Straßenrand. "Was ist..?", begann sie, aber dann sah sie es. Der Troll hing wieder am Rückspiegel. Und er starrte sie an. "Das gibt's doch nicht, verdammter Mist", keuchte er, riss die Figur wieder ab und stieg aus. Sie sah, wie er sein Feuerzeug aus der Hosentasche kramte und den brennenden Troll auf den Boden warf. Dann trat er mehrfach auf den verschmorten Plastikhaufen ein. Als er einstieg, sahen sie sich an. "Werden wir verrückt?", fragte er. Sie zögerte mit einer Antwort: "Ich... weiß es nicht."

Es wurde langsam dunkel, und er hätte das Auto fast in den Gegenverkehr gezogen, als sie beide mit weit aufgerissenen Augen auf den kleinen Troll starrten, der wieder am Innenspiegel hing. "Jetzt reicht's", keuchte er, fuhr rechts ran, riss die Figur ab und stampfte vor den Wagen. Im Scheinwerferlicht sah sie, wie er den Troll mit seinem Taschenmesser zerschnitt und die Einzelteile ins Gebüsch warf. Dann rannte er zum Fahrzeug zurück, öffnete die Tür und sagte mit brüchiger Stimme: "Ich... das... kann doch alles gar nicht..."

Weiter kam er nicht. Eine riesige Hand hatte ihn von hinten gepackt und in das Zwielicht zwischen Scheinwerfer und schwedischer Nacht gezogen. Entsetzt starrte er den Angreifer an und erkannte ihn sofort. Die lila Wuschelhaare, die schwarzen Knopfaugen - aber der Troll war nun hünenhaft und haarig und offensichtlich sehr schlecht gelaunt. Und sein Gesicht... Statt der Stupsnase und des verschmitzten Grinsens hatte er eine groteske Fratze, wie die bizarre Parodie auf skandinavische Fabelwesen, völlig verzerrt und entstellt und laut brüllend. Als der Troll mit einer Pranke seinen Kopf zerquetschte, dachte er: "Scheiße - was, wenn Gott am Ende auch..?"

Sie schrie und konnte nicht mehr aufhören. Starr vor Angst sah sie zu, wie das Monster im Halbdunkel sein blutiges Abendbrot zu sich nahm. Dann dreht es sich zu ihr um und glotzte sie durch die Windschutzscheibe an. "Er guckt wirklich unheimlich", dachte sie, als der Troll auf sie zukam.

Mittwoch, 21. Oktober 2020

In der Urzeit

"Wenn das alles vorbei ist", sagte er und sah hinauf in den nächtlichen Himmel, "dann treffen wir uns mit all unseren Freunden." "Oh ja", sagte sie und folgte seinem Blick, "dann futtern wir was Leckeres und lachen über dieses blöde Jahr." Gemeinsam betrachteten die beiden Saurier die Meteoriten, die vom Himmel regneten, und träumten von der Zeit nach der Katastrophe.

Sonntag, 27. September 2020

Unterm Himmel

Sie betrachteten den nächtlichen Himmel. Irgendwann fragte der Mann: "Ob es einen Sinn in all dem gibt?" "Ich weiß es nicht", antwortete der Hund. Der Mann sah ihn an: "Stellt ihr euch niemals solche Fragen?" "Nein", sagte der Hund, den Blick auf die Sterne gerichtet. "Wir leben."

Dienstag, 22. September 2020

Im Comic

Erschöpft lehnte er sich an ein Autowrack und blinzelte ins Gegenlicht. Die massige Gestalt, die herabschwebte, war im rieselnden Staub kaum zu erkennen. Ihre grollende Stimme war jedoch so eindeutig wie ihre Silhouette und das Chaos ringsum: "Warum gibst du nicht einfach auf?" Er hustete beim Lachen, richtete sich auf und entgegnete: "Ich kann nicht. Das weißt du." Der Held hob ein zertrümmertes Fahrzeug noch und schleuderte es auf ihn. "Und du weißt, wie das hier läuft - du hast keine Chance." Es gelang ihm nur knapp, dem Wurfgeschoss auszuweichen. Klar, das wusste er. Immerhin war er der Bösewicht. Geboren, um zu verlieren. Mehr aus Pflichterfüllung feuerte er seine letzten Kugeln ab und sah zu, wie sie an der unzerstörbaren Haut seines Gegners abprallten. Dann bemühte er sich, sein berühmtes Grinsen aufzusetzen: "Noch gebe ich nicht auf." Als der andere ihn am Kragen zu sich zog, wusste er, wie leer seine Worte waren. Wieder die dröhnende Stimme: "Lernst du denn nie aus deinen Fehlern?" Für einen Moment wurde sein Lächeln echt: "Nein, Kumpel. Kein bisschen."

Samstag, 5. September 2020

In der Gruft

"Ihr Name?", fragte der hagere Mann an der Rezeption, dessen Gesicht im flackernden Kerzenschein beängstigend blass aussah. "Talbot", antwortete der Reisende mit dem ernsten Blick. "Larry Talbot." Der Hagere grinste zufrieden. "Ah, Mr. Talbot. Lange her. Willkommen. Dann sind wir ja vollzählig."

Er ging voran einen dunklen Gang entlang, an dessen Ende er eine quietschende Holztür öffnete. "Treten Sie ein, Mr. Talbot. Ich nehme an, Sie kennen die anderen?" Der Reisende nickte und ließ ein leises Knurren vernehmen. Er war ihnen allen bereits begegnet. Frank, ein grobschlächtiger Hüne, der viel von seinem Vater sprach. Amos, dessen penetranter Fischgeruch den Raum ausfüllte. Henry, der nervös seinen eigenen Schatten anstarrte. Dessen Studienkollege Jack, kaum mehr als ein Flüstern in der Dunkelheit. Raoh, ein staubiger Aristokrat aus Ägypten. Und natürlich der Graf, der ihn am Empfang begrüßt hatte.

Dieser ergriff erneut das Wort: "Meine Herren, wie Sie wissen, sind wir die letzten unserer Art. Und das stellt uns vor gewisse Probleme. Ich lege Ihnen also heute die Pläne zur Rettung der Menschheit vor. Unserer Existenzgrundlage. Fangen wir an mit dem Klimawandel..."

Donnerstag, 3. September 2020

Im Ring

"Okay", sagte er, wischte sich mit dem Handrücken das Blut von der Nase und hielt den Blick fest auf seinen Gegner. Er richtete sich auf und fügte hinzu: "Soviel zum Training. Fangen wir an."

Sonntag, 23. August 2020

In der Fantasie

Sie kamen zu ihr mit ihren Wünschen und Hoffnungen, ihren Sorgen und Ängsten. Junge und alte Menschen und solche dazwischen, aus der Stadt und von den Dörfern ringsum, manche hatten es eilig und andere viel Zeit. Sie hörte sich an, was sie zu sagen hatten, und sie half jeder und jedem Einzelnen von ihnen. Für alle hatte sie einen Traum oder einen Rat oder eine Idee zum Mitnehmen. Und am Ende des Tages, wenn die Buchhändlerin ihren kleinen Laden abschloss, war auch sie zufrieden und dachte an all die Menschen, die gerade in ihren neuen Büchern blätterten.

Dienstag, 4. August 2020

Niemals

"Computer. Lagebericht." "Du könntest ruhig etwas höflicher sein. Immerhin hast du mich programmiert, mich ebenfalls höflich auszudrücken." Während das Raumschiff durch die unendliche Schwärze fiel, waren es Diskussionen wie diese, die etwas Abwechslung in den Alltag an Bord brachten. "Ich habe dich nicht programmiert, mich zu nerven", sagte der Astronaut. "Aber gut: Lagebericht bitte." "Sehr gerne", antwortete der Computer. "Alle Systeme funktionieren einwandfrei. Übrigens schon seit 748 Tagen, wie ich hinzufügen möchte." "Toll", murmelte der Astronaut. Der Computer schien zu zögern, ehe er fragte: "Darf ich dir eine Frage stellen?" "Das tust du doch gerade." "Du wirkst traurig." "Das ist keine Frage." "Warum bist du traurig?" Der Astronaut blickte aus dem Fenster ins dunkle All. "Keine Ahnung." "Ist es wegen dem, was war?" Jetzt fängt er auch noch an zu philosophieren, dachte der Astronaut und richtete seinen Blick auf die Steuerung des Raumschiffs. "Nein", sagte er. "Ist es wegen dem, was ist?" Der Computer ließ nicht locker. "Nein", wiederholte der Astronaut leiser. "Ist es wegen dem, was sein wird?", fragte der Computer und fügte hinzu: "Wir wissen nicht, was sein wird." "Vielleicht", sagte der Astronaut und blickte wieder aus dem Fenster. Er schloss kurz die Augen und sagte dann: "Es ist wegen dem, was nicht sein wird." Der Computer schwieg.

Mittwoch, 29. Juli 2020

Beim Service

Interessante Woche, irgendwie. Unter anderem habe ich mit PayPal telefoniert (also quasi mit dem Yeti auf dem Elefantenfriedhof das Bernsteinzimmer gefunden) und wurde interviewt (was beim ersten Mal furchtbar war, aber dank eines technischen Problems glücklicherweise wiederholt werden musste). Und eben habe ich mit dem kompletten Support-Team eines großen Online-Versandhandels gechattet. Das ging so (Originalabschrift, meine Kommentare in eckigen Klammern):

Ich: Hallo. Ist der mp3-Einkaufswagen nicht mehr verfügbar? Wo finde ich die Titel, die ich dort hineingelegt habe?

Sie sind nun mit Zivko Filipovic von XXXX.de verbunden.

[Zivko. Natürlich. Die Pseudonyme erfindet offenbar ein Zufallsgenerator.]

Zivko Filipovic: Einen schönen guten Tag Herr Engelhardt,

Herzlich willkommen bei XXXX Digital.

Gerne werde ich das für Sie nachschauen. Geben Sie mir eine Minute Zeit, bitte.

Ich: Vielen Dank.

Zivko Filipovic: Der MP3-Einkaufswagen ist nur über die Musik-Downloads zugänglich. Er wird nicht angezeigt, solange Sie sich in einem anderen Bereich auf XXXX.de befinden.

Um zu den Musik-Downloads zu gelangen, wählen Sie "XXXX Music" unter "Alle Kategorien" auf der XXXX.de-Startseite aus oder gehen Sie auf den unten stehenden Link:

XXXX

Das Symbol für den MP3-Einkaufswagen zeigt sich in der oberen rechten Ecke Ihres Bildschirms, sobald Sie sich auf einer MP3-Produktdetailseite befinden, sowie auf einigen Stöber- und Sucheseiten der Musik-Downloads. Um Zugriff auf Ihren MP3-Einkaufswagen zu haben und diesen verwalten zu können, müssen Sie auf Ihrem XXXX.de-Benutzerkonto angemeldet sein.

[Ach so. Und wie bindet man sich nochmal die Schuhe?]

Ich: Das ist mir alles bewusst. Aber wenn Sie selbst diesen Link ausprobieren, stellen Sie fest, dass es den mp3-Einkaufswagen oben rechts nicht mehr gibt...

Zivko Filipovic: Ein Moment bitte

[Einen. Einen Moment.]

Sie sollten neben dem "Kaufen"-Button können Sie mehrere Alben und Songs aus den Musik-Downloads kaufen, indem Sie Artikel zum MP3-Einkaufswagen hinzufügen und anschließend auf "Weiter" klicken.

[Ernsthaft?]

Ich: Nein, diese Option gibt es nicht mehr. Genau wie den mp3-Einkaufswagen. Man kann nur noch sofort kaufen.

Zivko Filipovic: Nutzen Sie XXXX Music oder XXXX Shopping App?

Ich: Ich nutze die XXXX-Website auf dem PC.

Zivko Filipovic: Ein Moment

[Einen.]

Gerne helfe ich Ihnen hier weiter und werde Ihre Anfrage direkt an unsere Spezialisten weiterleiten. Bitte schließen Sie das Chatfenster nicht – sie werden sofort mit einem Kollegen verbunden. Bitte geben Sie dem Kollegen einen Augenblick Zeit, um sich in den Vorgang einzulesen. Vielen Dank!

Ich: Danke sehr.

Ein Mitarbeiter des Kundenservice wird sich sofort bei Ihnen melden.

Sie sind nun mit Murat von XXXX.de verbunden.

[Murat und Zivko kennen sich von ihrem eigentlichen Job als Türsteher.]

Murat: Hallo und herzlich willkommen bei XXXX.de. Mein Name ist Murat Celik.

[Falsch.]

Ich: Hallo.

Murat: Darf ich Sie einen Moment um Geduld bitten?

Gerne informiere ich mich für Sie, damit ich Ihnen eine verlässliche Auskunft geben kann.

Ich: Klar, vielen Dank.

Ein Mitarbeiter des Kundenservice wird sich sofort bei Ihnen melden.

[Prima. Was genau war jetzt eigentlich Murats Aufgabe?]

Sie sind nun mit Archil von XXXX.de verbunden.

[Ach, kommt schon.]

Archil: Herzlich Willkommen im XXXX Tech-Support Chat, Archil mein Name. Ich werde ihnen gerne weiterhelfen.

Ich: Hallo. Das klingt gut.

[Mehrere Minuten lang passiert nichts.]

Soll ich das Problem nochmal schildern..?

Archil: Nein .Sie können es mit andere Internetbrowser versuchen

[Ja, das kann ich. Aber ich behaupte lieber...]

Ich: Ich habe es bereits mit Chrome und Firefox versucht. Auch im Browser des Fire-Tablets zeigt die Website den mp3-Einkaufswagen nicht mehr an.

Archil: Ich recherchiere gerne gleich für Sie im System, einen kleinen Moment, bitte.

[Na also - einen. Sag ich doch.]

Ich: Danke.

Archil: wie ich verstanden habe Sie möchten Songs Kaufen richtig?

[Archil ist das Hirn der Gruppe.]

Ich: Ja. Vor allem aber möchte ich sie vorher in den Einkaufswagen legen. Und ich möchte die Songs sehen, die ich dort bereits reingelegt habe.

Archil: wie ich recherchiert habe wen Sie mp3 Music kaufen möchten Sie können es entwider direkt kaufen oder XXXX Music Abonnement erwerben.

[Das Wort Recherche wird mitunter willkürlich verwendet.]

Ich: Das ist klar. Aber bislang konnte man sie in den mp3-Einkaufswagen legen. In den ich bereits einige Songs gelegt habe. Meine Frage also: Wo finde ich ihn jetzt? Gibt es ihn nicht mehr? Und wie komme ich an die Liste der Musik, die dort bereits drinliegt?

Archil: Ich werde Sie weiterleiten .kleinen Moment bitte

Ich: Sicher. Danke.

Ein Mitarbeiter des Kundenservice wird sich sofort bei Ihnen melden.

Sie sind nun mit Emili von XXXX.de verbunden.

Ein Mitarbeiter des Kundenservice wird sich sofort bei Ihnen melden.

[Hä? Wo ist Emili? Ist ist er das Weichei im Team?]

Sie sind nun mit David von XXXX.de verbunden.

David: Guten Tag. Ein Moment Bitte.

[Einen. Das hatte Archil aber besser drauf.]

Ich: Hallo. Gerne.

David: Ich sehe den MP3 Warenkorb nicht sichtbar, wenn ich die Webseite überprüfe.

Werde mich bei meiner technischen Abteilung verifizieren müssen, ob es entfernt wurde

[Genau. Verifiziere dich. Kann nie schaden.]

Ich: Prima, vielen Dank. Das Thema wird bereits im Userforum diskutiert.

David: Ich werde Ihnen mitteilen, was die Techniker sagen per Email, wenn das akzeptabel ist.

Ich: Ja, sicher. Danke dafür.

[Unangenehme Pause. Ob Emili gerade reingekommen ist?]

David: Ich werde die E-Mail in Kürze senden.

Bitte schließen Sie das Chatfenster, und ich werde die Techniker kontaktieren.

Ich: Alles klar. Tschüß und Gruß an die Kollegen.

Montag, 20. Juli 2020

Heute

Heute würde es passieren. Oder besser: Er würde es tun. Viel zu lange hatte er es vor sich hergeschoben. Hatte darüber nachgedacht. Das Für und Wider abgewägt (eigentlich eher das Wider). Und sich darin verloren, über etwas nachzugrübeln statt endlich damit anzufangen. Währenddessen waren außerhalb seines rotierenden Verstandes die Jahreszeiten vorbeigezogen. Die Wochen. Monate. Jahre. Aber heute war es soweit. Er war fest entschlossen. Mit dieser Entschlossenheit stieß er die Haustür auf. Eilte die Stufen zu seiner Wohnung hoch. Setzte sich an den Schreibtisch und startete den Computer. Dann begann er zu tippen. Die ersten Worte flossen ganz leicht aus seinem Kopf in die Tastatur: "Heute würde es passieren."

Samstag, 11. Juli 2020

Am Abend

Eigentlich kann ich Menschen ganz gut einschätzen. Nach knapp acht Jahren Spätdienst in der Tanke vom alten Schmitt hab ich schon so ziemlich alles und jeden gesehen. Als neulich dieser Typ reinkam, war mir also sofort klar: Der bedeutet Ärger.

Drei Kunden betraten so ziemlich gleichzeitig die Tankstelle, um zu bezahlen. Das übliche Publikum an einem Dienstagabend. Ein etwas nervöser älterer Mann im grauen Anzug, der seinen ebenfalls älteren BMW vollgetankt hatte. Eine junge Frau in teurer Jeans und mit Smartphone am Ohr, die vergessen hatte, ihren Vorglüh-Drink im Supermarkt zu besorgen. Und dieser Kerl, der zwar seine Harley betankt hatte, aber garantiert noch ein Sixpack mitnehmen würde. Und hoffentlich Geld dabei hatte. Bulliger Hüne, Zottelbart, Lederklamotten, Zahnstocher im Mundwinkel. Ich hasse Stress am Abend.

Die Telefonfrau schritt wie erwartet die Spirituosen ab. Der Biker stapfte mit grimmiger Miene zum Kühlschrank. Und der Krawatten-Opa stand mit flackerndem Blick vor mir. Griff in seine Jackentasche. Und zog eine Pistole heraus. Hatte ich erwähnt, dass ich Ärger hasse? "Das ist ein Überfall", brüllte er mit zitternder Stimme. Als wäre mir das nicht bereits aufgefallen. Dann richtete er mit ebenfalls zitternder Hand seine Waffe auf mich. "Die Kasse! Mach schon!" Der alte Schmitt kann sich immer auf mich verlassen, aber ich lasse mich nicht für ein paar Kröten erschießen.

Also ließ ich die Kasse aufspringen und griff hinein. Die junge Frau hatte inzwischen angefangen, hysterisch zu schreien. Dabei fielen ihr das iPhone und eine Flasche aus der Hand, die mir sicher später vom Lohn abgezogen werden würde. Der Biker nahm einen Sechserpack Billigbier aus dem Eisschrank und kam ganz ruhig auf den betagten Räuber und mich zu. Er zog einen zerknüllten Fünfziger aus der Tasche, legte ihn auf die Theke und sagte: "Stimmt so."

Der Opa starrte ihn irritiert an. "Spinnst du? Das ist ein Überfall", wiederholte er. "Schon klar", antwortete der Motorrad-Typ, betrachtete kurz das kühle Sixpack und zog es dem Alten mit einem kräftigen Schwung über den Schädel. Der Opa ging zu Boden, die junge Frau hörte vor Überraschung auf zu kreischen, und ich starrte dem Biker nach, als er zum Ausgang schlenderte. Eigentlich kann ich Menschen ganz gut einschätzen.

Dienstag, 16. Juni 2020

Im All

Mühsam kletterte er aus der Raumkapsel, die in den vergangenen Jahren für ihn so etwas wie ein Zuhause gewesen war. Einsam hatte er in ihrer schützenden Hülle die Erde umkreist, die Kälte des Alls draußen gelassen und sich selbst drinnen. Sein Kontakt zur Bodenstation war so regelmäßig wie oberflächlich gewesen, kurze Dialoge per Video hatten den Kollegen dort unten den Astronauten gezeigt, der routiniert seine Berichte übermittelte. Und nicht den Mann, der nachdenklich aus dem Fenster starrte und die kleine blaugrüne Kugel betrachtete, die er vor langer Zeit verlassen hatte.

Nun war der Tag gekommen, um dorthin zurückzukehren, und das Transportschiff schwebte bereits in Warteposition neben der Kapsel. Nachdem er sie verlassen hatte, warf er durch den Schutzschirm seines Helms einen letzten Blick zurück und schwebte dann vorsichtig einige Meter durch den Weltraum. Er dachte an das dicke Kabel, das ihn mit der Raumkapsel verband und davor bewahrte, unkontrolliert durchs All katapultiert zu werden, um nach viel zu langer Zeit einen eisigen Tod zu sterben. Nun kam es ihm lächerlich dünn vor, und der Gedanke an das schwarze Nichts um ihn herum beunruhigte ihn. Der Transporter öffnete eine Luke, und lautlos trieb er auf das Licht dahinter zu. Das Kabel straffte sich, als er sein Ziel erreicht hatte. Ungeduldig wartete er auf eine helfende Hand. Darauf, dass jemand aus dem Raumschiff kommen und ihn beim Einstieg unterstützen würde. Er konnte nicht ewig zwischen den beiden stählernen Objekten schweben. Früher oder später würde er das Kabel kappen müssen, um seine Zeit allein hinter sich zu lassen. Bange Sekunden. Dann endlich erschien jemand in der Luke, in einem ähnlichen Raumanzug wie seinem.

Er durchtrennte das Kabel und schwebte einen letzten Meter auf die ausgestreckten Hände zu. Trieb kurz in der Unendlichkeit, die ihm eine Heimat geworden war. Und dachte daran, dass er seine eigentliche Heimat fast vergessen hatte. Als er in das Transportschiff gezogen wurde, lächelte er zum ersten Mal seit langer Zeit.

Donnerstag, 4. Juni 2020

Danach

"Unfassbar." Als er sich durch die alten Bilder und Texte klickte, dachte er immer wieder dieses eine Wort. "Unfassbar." Zwar beschäftigte er sich schon eine ganze Weile mit der Zeit vor dem Großen Schnitt, aber noch immer faszinierte es ihn, wie sehr sich die frühere Gesellschaft von der unterschied, in der er aufgewachsen war.

"Na", sagte Professor Schultze und grinste ihn an, "was ist denn so unfassbar?" Er hatte gar nicht mitbekommen, wie seine alte Dozentin die Bibliothek betreten hatte. Offenbar hatte sie ihm bei der Recherche zugesehen. Und offenbar hatte er laut gesagt, was er dachte: "Unfassbar." Die Alte - an der Uni war das mehr Ehrentitel als Spitzname - hatte die Zeit vor dem Großen Schnitt selbst miterlebt. In ihrer Kindheit war die Welt noch so, wie die Dateien auf seinem Bildschirm es beschrieben. "Unfass..." Er räusperte sich. "Hallo, Professor. Es ist einfach kaum zu fassen, wie sehr unsere Welt sich verändert hat. Das ist fast wie ein Blick in die Ära der Saurier." Erschreckt hielt er inne. Hoffentlich fasste die Alte das nicht als Beleidigung auf. Aber Schultze lächelte erneut. "Tja", sagte sie, als ihr Blick melancholisch wurde. "Das war wirklich eine ganz andere Welt."

Sie seufzte leise und begann zu erzählen: "In der Zeit vor dem Großen Schnitt, also jenem Tag, an dem die Menschheit endlich aus den Fehlern der Vergangenheit lernte, war tatsächlich alles anders. Wir hatten keine Wahl: Der Virus und seine Folgen hatten uns ganz schön durcheinander geschüttelt. Als es endlich einen Impfstoff gab, fingen wir an, etwas zu verändern. Aufzuräumen, wenn Sie so wollen. Despoten wurden entmachtet, Geld wurde umverteilt, es ging fortan um Frieden und Fortschritt statt um Aufrüstung und Vorurteile. Können Sie sich vorstellen, dass eine Pflegekraft im Krankenhaus damals deutlich schlechter bezahlt wurde als eine Chirurgin oder ein Chirurg? Dass es kein bedingungsloses Grundeinkommen für jeden gab? Dass Menschen in einigen Ländern verhungerten? Dass Frauen und Männer nicht gleichberechtigt waren, sondern beispielsweise unterschiedliche Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatten? Dass es Menschen gab, die andere nach Hautfarbe, Herkunft, Religion beurteilten? Dass es eine Rolle spielte, ob ein Paar verschiedene Geschlechter hatte oder dasselbe? Dass einige nicht an die Wissenschaft glaubten, sondern an Märchen? Dass es Kriege gab, überall auf der Erde? Dass nicht jeder leben durfte, wo sie oder er es wollte? Dass nicht überall Demokratie herrschte, es nicht überall freie Wahlen gab? Und dass sich manche gar den Faschismus zurückwünschten oder absurden Theorien über die Form des Planeten glaubten oder Menschenrechte ergebnisoffen diskutieren wollten? Dass Kontinente brannten, Tierarten ausgerottet wurden und die Ozonschicht ein Loch hatte?"

Sie verstummte, nachdem sie bemerkt hatte, dass ihre Antwort zu einer flammenden Rede geworden war. Ein drittes Mal lächelte sie, als sie zu ihrem Studenten sagte: "Sie haben völlig Recht - heute ist das wirklich unfassbar."

Mittwoch, 8. April 2020

Am Ende

"Sie haben die Wahl zwischen drei möglichen Szenarien", sagte der Besucher. "Vergessen Sie nicht: Ihre Entscheidung wird Realität."

"Fang schon an", knurrte sein Gegenüber. "Bringen wir's endlich hinter uns."

Einer der drei Arme des Besuchers drückte eine Taste. "Szenario eins: Alle sterben. Das Ende der Menschheit. Die Apokalypse, Sie wissen schon."

"Langweilig", sagte der andere. "Und nicht besonders originell."

"Szenario zwei", sagte der Besucher ungerührt und drückte eine weitere Taste. "Alles wird gut. Das Problem verschwindet. Überall herrschen Friede, Freude..."

"... Eierkuchen", unterbrach ihn sein Gesprächspartner. "Das ist ja noch langweiliger. Außerdem dauert es doch keine sechs Monate, bis die es wieder in den Sand setzen."

Der Besucher drückte die letzte Taste. "Szenario drei: Sie sind der einzige Überlebende. Niemand sonst. Nur Sie."

Sein Gast erhob sich aus dem Plastiksessel. "Gekauft", sagte er. Durch die ovalen Fenster des Raumschiffs sahen sie ein grelles Leuchten. Dann wurde es draußen dunkel. Und still. Der Mann ging zur Tür, die sich automatisch öffnete. Als er ins Freie trat, atmete er tief durch und lächelte. Er drehte sich noch einmal zum Besucher um. "Du wirkst nicht besonders überrascht."

"Natürlich nicht", sagte der Besucher. "Sie waren nie ein Teil der Gesellschaft Ihres Planeten. Fast ein Fremder wie ich. Hat man Ihnen das nie gesagt?"

Der Mann lachte bitter, als sein Weg durch die Einöde begann. "Oh doch, Kumpel", sagte er im Gehen. "Eigentlich andauernd."

Freitag, 27. März 2020

In naher Zukunft

Ein Auto hielt mit quietschenden Reifen. Die Tür ging auf, und ein kleiner alter Mann wurde hinausgeworfen. Er war noch nicht ganz vom regennassen Asphalt aufgestanden, als das Auto davon fuhr. Der Alte war sehr dünn, trug einen zerknitterten Anzug und lehnte sich erschöpft an ein Schaufenster. Als er sein Spiegelbild sah, zuckte er zusammen. Verwirrt dreht er sich um, zog eine zerknüllte Zeitung aus dem Mülleimer und zuckte erneut. "Dresden", dachte er. "Ausgerechnet."

... AUCH UNTER RECHTSEXPERTEN UND MEDIZINERN UMSTRITTEN. DAS VERFAHREN SIEHT VOR, DASS DAS BEWUSSTSEIN DER VERURTEILTEN VOLLSTÄNDIG IN EINEN KÜNSTLICHEN KÖRPER ÜBERTRAG...

"Jetzt mach doch mal das Scheißradio aus!" Willi war schlecht gelaunt wie immer und betrunken wie meistens. Wütend warf er die halbleere Bierdose nach seinem Kameraden. Otze, dessen kahlen Schädel er nur knapp verfehlt hatte, knurrte: "Halt die Fresse, ich will das hören."

... SEI DER ZWECK DER BESTRAFUNG, VOLKSVERHETZERN VOR AUGEN ZU FÜHREN, DASS ALLE MENSCHEN GLEICH SEIEN. AUS DIESEM GR...

"Lass uns lieber Neger klatschen", brüllte Willi. Er riss eine weitere Dose auf und trank sie mit drei Schlucken leer. Über sein lautes Rülpsen grunzte Otze: "Hast Recht - macht mehr Laune." Sie sprangen aus dem rostigen VW Bus und marschierten breitbeinig die nächtliche Straße runter.

Der alte Mann starrte wieder sein Spiegelbild an. "Ausgerechnet", dachte er erneut. Ein hagerer Greis starrte zurück, mit entsetzt aufgerissenen Augen, grauen Locken und dunkler Haut. Lautes Brüllen lenkte ihn ab. Von rechts näherten sich zwei breite Gestalten, kahlgeschorene Köpfe, einer schwenkte einen Baseballschläger. "Opa", rief der eine, "das ist heute nicht dein Tag!" Der andere ergänzte: "Sowas wie dich mögen wir hier gar nicht!"

Sie bauten sich vor dem kleineren Mann auf. "Na", fragte Willi drohend, "wie heißte denn, Negerlein?" Der Alte richtete sich auf. Trotz lag in seinem Blick, als er mit dem Fuß aufstampfte. Seine Antwort wurde von einem brutalen Schlag unterbrochen. "Mein Name ist Alice..."

Freitag, 20. März 2020

Zu Hause

"Ich werde dich Freitag nennen", verkündete er stolz, "weil heute Freitag ist."

"Lassen Sie mich sofort raus", antwortete sein Gegenüber verwirrt, "ich bin doch nur der Postbote."

Donnerstag, 19. März 2020

In Quarantäne

"Das kann nicht sein", sagte Schmidt. Hinter der Schutzbrille waren seine Augen weit aufgerissen, als er auf den großen Monitor starrte. "Du meinst: Das darf nicht sein", korrigierte Müller. Er kratzte sich die zerzausten Haare unter der Stoffhaube. "Und damit hast du leider Recht." Schmidt ließ sich in seinen Bürostuhl fallen. "Was machen wir jetzt?"

Sieben Jahre lang hatten sie an dem Computerprogramm gearbeitet, das ihnen bei der Lösung des größten Problems helfen sollte, mit dem die Menschheit sich je konfrontiert sah. Vor acht Jahren waren die ersten Fälle bekannt geworden. Anfangs haben wir noch Witze darüber gemacht, dachte Schmidt. Hamster und Klopapier. Sehr lustig. Er grinste schief, als er daran dachte, wie die Welt sich seitdem verändert hatte. Als die Zahl der Toten dramatisch anstieg, hatten die Menschen erkannt, dass sie zusammenarbeiten mussten. Zunächst hatte das bedeutet: Ausgangssperre, häusliche Quarantäne. In ihren geschützten Bunkern hatten sie dabei zugesehen, wie der Planet wieder grün wurde. Wo früher Kinder gespielt hatten, tobten nun junge Wölfe umher. Wo Hochhäuser in den Himmel geragt hatten, wuchsen dichte Wälder auf den Ruinen. Die Luft war so klar wie die Meere. Das Virus hatte eine Mauer zwischen der Erde und ihren ach so intelligenten Bewohnern gezogen. Der zweite Schritt war die Arbeit an einem Programm, das Antworten liefern sollte. Ein riesiger Rechner war mit dem geballten Wissen der klügsten Köpfe gefüttert worden. Sieben Jahre später, nachdem die Menschen sich fast an die künstlich erschaffene Nahrung, an die gefilterte Luft und an den Gedanken daran gewöhnt hatten, mangels körperlicher Nähe die letzte Generation ihrer Spezies zu sein, war es endlich soweit. Das Programm lief und gab ihnen eine Antwort auf all ihre Fragen.

"Ich weiß es nicht", unterbrach Müller die Gedanken seines Kollegen. Er blickte ihn durch die leicht beschlagene Glasscheibe an, die die beiden trennte, seit sie sich kannten. "Was schlägst du vor?" Schmidt stand auf. "Sie müssen es erfahren", sagte er mit fester Stimme. "Wir haben geschworen, für die Wahrheit einzutreten." Müller nickte. "Auch wenn sie weh tut." Beide sahen zu dem großen Monitor. In leuchtend grünen Buchstaben stand dort: "Virus: Human. Help: COVID-19. Program active."

Samstag, 14. März 2020

Zu Fuß

Schritt für Schritt ging er seinen Weg. Der Sand knirschte unter seinen Sohlen. Die Sonne brannte am Tag und machte Platz für die Kälte in der Nacht, damit er merkte, wie seine Zeit verstrich. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann er losgegangen war. Oder warum. Eine Weile hatte er den Kadaver eines namenlosen Pferdes hinter sich hergezogen, um nicht ganz allein zu sein. Aber irgendwann war dieser zum Skelett geworden, und er hatte es einfach zurückgelassen. Irgendwo in der Wüste. Er war sicher, einige Male falsch abgebogen zu sein. Doch spielte das wirklich eine Rolle? Er ging seinen eigenen Weg, hatte sich vor langer Zeit verlaufen und setzte längst nur noch aus Gewohnheit einen Fuß vor den anderen. Nach dem, was er für Jahre hielt, verwandelte sich die sandige Landschaft um ihn herum irgendwann in eine blassgrüne Einöde. Vereinzelt zitterten trockene Zweige im Wind. Und einmal sah er eine bunte Blume, die tapfer ihre Blüte gerade hielt. Aber sie sah ihn nicht, und so ging er weiter. Das blasse Grün verschwand, die Wüste war wieder da. Sein Weg führte ihn geradeaus. Schritt für Schritt.

Montag, 2. März 2020

Drinnen

Kaboom. Dumpf tönten Rufe und Geräusche durch die milchigen Fenster. Als er mit einem Ärmel über die beschlagene Scheibe wischte, dachte er: "Perfekt isoliert. Genau wie ich." Nachdem die ersten Schreckensmeldungen über sein Mobiltelefon geflackert waren, hatte er sofort reagiert und es mit einer Bohrmaschine zerstört. Sein Keller war voller Konserven, Medikamente und Munition. Die Solaranlage auf dem stählernen Dach versorgte ihn mit Strom. Der Wasserbehälter war randvoll. Er konnte Monate allein überleben, und das tat er auch. Tagsüber schlief und trainierte er. Nachts saß er zusammengekauert neben der Sicherheitstür, sein Gewehr im Arm. Und lauschte der trügerischen Stille. Der Lärm am Tag war eindeutig: Die Welt, wie er sie gekannt hatte, gab es nicht mehr. Die Zivilisation war zusammengebrochen, es herrschten Gewalt und Anarchie. Während er seinen düsteren Gedanken nachhing und mürrisch auf einem Stück Trockenfleisch kaute,

wurde wenige Meter von seinem Betonbau entfernt ein weiteres Feuerwerk vorbereitet. Seit Monaten feierten die Menschen ausgelassen die neue Hoffnung für ihren Planeten. Weltweit waren sämtliche Kampfhandlungen aufgegeben worden. Jeder Staatschef und jede Regierungsorganisation hatten die Grenzen geöffnet und alles verfügbare Geld dazu verwandt, Lebensmittel und Medizin in die Hungerregionen und Krisengebiete zu fliegen. Wissenschaftler weltweit hatten gemeldet, dass die Umwelt sich mit überraschender Geschwindigkeit erholte. Die meisten Krankheiten galten als besiegt. Überall tanzten, lachten und feierten die Menschen in den Straßen. Das Funkeln des knallenden Feuerwerks leuchtete auf strahlenden Gesichtern. Kaboom.

Sonntag, 2. Februar 2020

Draußen

Die Dunkelheit war sein Freund. Sie schützte ihn vor der Welt. Aber das fahle Licht, das durch die Ritzen in der Tür in seine Kammer fiel, leuchtete verheißungsvoll. Und die Geräusche, die durch die gleichen Spalten zu hören waren, weckten seine Neugier. Hier kannte er jeden klammen Stein, hatte sämtliche vergilbten Bücher im verfallenen Regal gelesen, nahm den modrigen Gestank seines Zuhauses als vertraut wahr.

Da war noch mehr, das wusste er aus den alten Geschichten. Vielleicht würden die anderen ihn mögen, wenn er sich benahm wie sie, wie er es aus den Büchern gelernt hatte. Ich könnte einer von ihnen sein, dachte er, und sein Herz schlug schnell und laut, als er die knarrende Tür öffnete. Hab Mut, sagte er zu sich selbst, verließ mit schweren Schritten die düstere Kammer, die sein Zuhause war, und ging die lange Treppe hinunter. Da unten war Musik, viele Menschen sprachen durcheinander, einige lachten. Er atmete tief durch und betrat einen Saal, der so hell erleuchtet war, dass ihm die Augen brannten.

Plötzlich verstummten das Gelächter und die Gespräche, dann auch die Musik. Die fremden Menschen starrten ihn an, nicht erstaunt, sondern entsetzt. Kinder liefen weinend zu ihren Eltern. Einige der Erwachsenen schrien laut auf. Jemand übergab sich. Ein Mann griff sich eine Flasche und kam drohend auf ihn zu. Überrascht wich er zurück, verängstigt hielt er einen Arm vor sich und drehte das Gesicht weg.

Dann sah er es, als Spiegelbild in einem Fenster. Sah zum ersten Mal, wer er wirklich war. Was er war. Er war anders als sie, erschreckend anders. Es hatte keinen Sinn, sich einzureden, er könnte jemals einer von ihnen werden. Was hatte er sich nur eingebildet? Wie sollten sie etwas wie ihn akzeptieren? Wie hatte er nur glauben können, dass jemand für ihn die gleiche Neugier, dasselbe Interesse empfinden konnte, die ihn aus seiner Kammer getrieben hatten? Schweigend wandte er sich ab und humpelte verzweifelt die Stufen hinauf. Er torkelte in sein Zuhause und zog die schwere Tür hinter sich zu. Allein. Endlich. Die Dunkelheit war sein Freund.