Dienstag, 16. Juni 2020

Im All

Mühsam kletterte er aus der Raumkapsel, die in den vergangenen Jahren für ihn so etwas wie ein Zuhause gewesen war. Einsam hatte er in ihrer schützenden Hülle die Erde umkreist, die Kälte des Alls draußen gelassen und sich selbst drinnen. Sein Kontakt zur Bodenstation war so regelmäßig wie oberflächlich gewesen, kurze Dialoge per Video hatten den Kollegen dort unten den Astronauten gezeigt, der routiniert seine Berichte übermittelte. Und nicht den Mann, der nachdenklich aus dem Fenster starrte und die kleine blaugrüne Kugel betrachtete, die er vor langer Zeit verlassen hatte.

Nun war der Tag gekommen, um dorthin zurückzukehren, und das Transportschiff schwebte bereits in Warteposition neben der Kapsel. Nachdem er sie verlassen hatte, warf er durch den Schutzschirm seines Helms einen letzten Blick zurück und schwebte dann vorsichtig einige Meter durch den Weltraum. Er dachte an das dicke Kabel, das ihn mit der Raumkapsel verband und davor bewahrte, unkontrolliert durchs All katapultiert zu werden, um nach viel zu langer Zeit einen eisigen Tod zu sterben. Nun kam es ihm lächerlich dünn vor, und der Gedanke an das schwarze Nichts um ihn herum beunruhigte ihn. Der Transporter öffnete eine Luke, und lautlos trieb er auf das Licht dahinter zu. Das Kabel straffte sich, als er sein Ziel erreicht hatte. Ungeduldig wartete er auf eine helfende Hand. Darauf, dass jemand aus dem Raumschiff kommen und ihn beim Einstieg unterstützen würde. Er konnte nicht ewig zwischen den beiden stählernen Objekten schweben. Früher oder später würde er das Kabel kappen müssen, um seine Zeit allein hinter sich zu lassen. Bange Sekunden. Dann endlich erschien jemand in der Luke, in einem ähnlichen Raumanzug wie seinem.

Er durchtrennte das Kabel und schwebte einen letzten Meter auf die ausgestreckten Hände zu. Trieb kurz in der Unendlichkeit, die ihm eine Heimat geworden war. Und dachte daran, dass er seine eigentliche Heimat fast vergessen hatte. Als er in das Transportschiff gezogen wurde, lächelte er zum ersten Mal seit langer Zeit.

Donnerstag, 4. Juni 2020

Danach

"Unfassbar." Als er sich durch die alten Bilder und Texte klickte, dachte er immer wieder dieses eine Wort. "Unfassbar." Zwar beschäftigte er sich schon eine ganze Weile mit der Zeit vor dem Großen Schnitt, aber noch immer faszinierte es ihn, wie sehr sich die frühere Gesellschaft von der unterschied, in der er aufgewachsen war.

"Na", sagte Professor Schultze und grinste ihn an, "was ist denn so unfassbar?" Er hatte gar nicht mitbekommen, wie seine alte Dozentin die Bibliothek betreten hatte. Offenbar hatte sie ihm bei der Recherche zugesehen. Und offenbar hatte er laut gesagt, was er dachte: "Unfassbar." Die Alte - an der Uni war das mehr Ehrentitel als Spitzname - hatte die Zeit vor dem Großen Schnitt selbst miterlebt. In ihrer Kindheit war die Welt noch so, wie die Dateien auf seinem Bildschirm es beschrieben. "Unfass..." Er räusperte sich. "Hallo, Professor. Es ist einfach kaum zu fassen, wie sehr unsere Welt sich verändert hat. Das ist fast wie ein Blick in die Ära der Saurier." Erschreckt hielt er inne. Hoffentlich fasste die Alte das nicht als Beleidigung auf. Aber Schultze lächelte erneut. "Tja", sagte sie, als ihr Blick melancholisch wurde. "Das war wirklich eine ganz andere Welt."

Sie seufzte leise und begann zu erzählen: "In der Zeit vor dem Großen Schnitt, also jenem Tag, an dem die Menschheit endlich aus den Fehlern der Vergangenheit lernte, war tatsächlich alles anders. Wir hatten keine Wahl: Der Virus und seine Folgen hatten uns ganz schön durcheinander geschüttelt. Als es endlich einen Impfstoff gab, fingen wir an, etwas zu verändern. Aufzuräumen, wenn Sie so wollen. Despoten wurden entmachtet, Geld wurde umverteilt, es ging fortan um Frieden und Fortschritt statt um Aufrüstung und Vorurteile. Können Sie sich vorstellen, dass eine Pflegekraft im Krankenhaus damals deutlich schlechter bezahlt wurde als eine Chirurgin oder ein Chirurg? Dass es kein bedingungsloses Grundeinkommen für jeden gab? Dass Menschen in einigen Ländern verhungerten? Dass Frauen und Männer nicht gleichberechtigt waren, sondern beispielsweise unterschiedliche Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatten? Dass es Menschen gab, die andere nach Hautfarbe, Herkunft, Religion beurteilten? Dass es eine Rolle spielte, ob ein Paar verschiedene Geschlechter hatte oder dasselbe? Dass einige nicht an die Wissenschaft glaubten, sondern an Märchen? Dass es Kriege gab, überall auf der Erde? Dass nicht jeder leben durfte, wo sie oder er es wollte? Dass nicht überall Demokratie herrschte, es nicht überall freie Wahlen gab? Und dass sich manche gar den Faschismus zurückwünschten oder absurden Theorien über die Form des Planeten glaubten oder Menschenrechte ergebnisoffen diskutieren wollten? Dass Kontinente brannten, Tierarten ausgerottet wurden und die Ozonschicht ein Loch hatte?"

Sie verstummte, nachdem sie bemerkt hatte, dass ihre Antwort zu einer flammenden Rede geworden war. Ein drittes Mal lächelte sie, als sie zu ihrem Studenten sagte: "Sie haben völlig Recht - heute ist das wirklich unfassbar."