Mittwoch, 10. Juli 2019

In aller Kürze

Da hing er also, am Abgrund, kurz vor dem Sturz in die Tiefe. Verzweifelt zappelte er, hielt er sich mit einer Hand fest und flehte mich an: "Zieh mich hoch! Bitte!" Vorsichtig trat ich einen Schritt näher an die Schlucht und blickte in die endlose Dunkelheit. Der Wind kühlte mein Gesicht, als ich die Augen schloss und lächelte. Dann bückte ich mich zu ihm herunter und flüsterte: "Guten Flug."

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Die Beleuchtung der Mikrowelle brachte etwas Helligkeit in die dunkle Küche. In ihr Leben. Sie atmete tief und ruhig, als sie zusah, wie das Essen sich erwärmte. Das Brüllen aus dem Wohnzimmer ignorierte sie. Zum ersten Mal seit 30 Jahren. Als das Licht erlosch, nahm sie die Mahlzeit heraus, zog ein grünes Fläschchen aus der Kittelschürze und würzte nach. Sie hob den Teller an und schnupperte. Tatsächlich: völlig geruchlos. Und schmecken würde er sicher ebenfalls nichts. Als sie dem Brüllen entgegenging, freute sie sich auf die baldige Stille.

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Er wollte schreien, aber das ging nicht. Der Strick um seinen Hals schnürte ihm die Luft ab. Dabei hätte schreien sicher gut getan. Die Angst rauslassen. Und den Schmerz, denn das laute Knacken seines Genicks ging einher mit heftigen Stichen, die bestimmt dafür gesorgt hätten, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Allerdings verhinderte die Kapuze über seinem Kopf ohnehin, dass er etwas sah. Aber hören konnte er. Die Stimme des Henkers dröhnte in seinem Kopf. "Möge Gott deiner verdammten Seele gnädig sein", sagte sie. "In der Hölle sollst du schmoren für deine Untaten." Hätte er doch nur schreien können. "Ich bin unschuldig", hätte er gerufen. "Ihr macht einen schrecklichen Fehler", hätte er gebrüllt. Nichts wollte er in diesem Moment so sehr wie schreien. Doch, etwas schon: Er wollte atmen. Aber das ging nicht.

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Der Keller. Schon immer hatte sie Angst gehabt, dort hinunter zu gehen. Die Spinnweben, der Dreck, die Kälte. Die Dunkelheit. Aber nun war sie kein Kind mehr, und es konnte doch wirklich nicht wahr sein, dass sie seit dem Tod ihrer Eltern nicht im Keller gewesen war. Seit fast zwölf Jahren. Die einzige Glühbirne am unteren Ende der schiefen Holztreppe flackerte. Aber immerhin: Ganz dunkel war es nicht. Mit jedem zögernden Schritt sah sie mehr vom zugestellten Kellerraum. Jedes Flackern brachte diffuses Licht in eine andere düstere Ecke. Schließlich war sie unten angekommen. Es roch moderig, nach Verfall. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie sich vorsichtig um. Die alte Truhe. Das kaputte Regal. Das verrostete Fahrrad. Dann plötzlich ging das Licht aus. Die Dunkelheit war zurück. Sie hörte ein seltsames Kichern. Und spürte eine kalte Hand an ihrer Schulter.