Dienstag, 6. April 2021

Im Spiegel

"Aber, Mum", sagte Elana in einer Mischung aus Verzweiflung und Trotz, "die anderen Mädchen schminken sich auch." Amüsiert betrachtete Mortiana das Gesicht ihrer Tochter. Sie hatte die gleiche blasse Haut wie sie, nun allerdings mit zuviel Rouge versehen, mit zwei Kleksen Tusche über den Augen und mit verschmiertem Lippenstift, dessen Farbe immerhin von einem angenehmen Blutrot war. "Die anderen Mädchen", sagte sie tadelnd, mit dem leicht singenden Akzent ihrer fernen Heimat, "haben aber im Gegensatz zu uns ein Spiegelbild und können daher sehen, was sie tun."

Montag, 22. März 2021

Im Labor

Viele grübeln ja gerade darüber nach, welcher Impfstoff der beste ist. Ich hab mich per Drohne mal bei den großen Herstellern in aller Welt umgeschaut.

Biontech-Pfizer, High-Tech-Labor in Marburg/Deutschland. Zwei attraktive Menschen verschiedenen Geschlechts in strahlend sauberen Kitteln stehen vor dem dreidimensionalen Hologramm eines Erlenmeyerkolbens und bedienen mit virtuellem Handschuh und entsprechender Brille einen animierten Bunsenbrenner. "... und wenn unsere Berechnungen stimmen, hilft das Vakzin auch gegen Fernweh." "Na, das wird ja bald kaum noch nötig sein. Wenn wir erst die Welt gerettet haben, darf man ja wieder reisen." "Auch wieder wahr. Apropos: Sehen wir uns am Samstag am Kronensee?" "Wenn du bei der Regatta wieder nur Zweiter werden möchtest..."

AstraZeneca, Marketing-Abteilung in Södertälje/Schweden. Ein halbes Dutzend Männer mittleren Alters in dunklen Anzügen und mit gelockerten Krawatten sitzt an einem langen Marmortisch. Einige weinen, manche trinken harten Alkohol aus Flaschen. Einer von ihnen blickt von einem zerwühlten Häufchen Kokain auf: "Wissen wir denn schon, wer damit an die Öffentlichkeit gegangen ist?" Ein anderer starrt sehnsuchtsvoll aus dem geöffneten Fenster auf den Betonboden in der Tiefe: "Es stand im Beipackzettel. Die Nerds sagen, das muss so." Ein dritter springt auf, sein Designerstuhl fällt um: "Das muss so?! Das MUSS so..?"

Gamaleja-Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie in Moskau/Russland. In einem leicht heruntergekommenen Labor sitzen zwei Männer auf wackeligen Hockern. Sie tragen ergraute Kittel und Cordhosen in verwaschenem Graubraun. Ihre Frisuren stammen aus den 70er Jahren, dasselbe gilt für ihre Backenbärte und die Laborausstattung. "Wer hat die aktuelle Lieferung überprüft, Genosse?", fragt der eine, während er versucht, mit einem dreckigen Geschirrtuch ein gesplittertes Reagenzglas zu reinigen. "Dimitri", antwortet der andere, der gerade das Kassengestell seiner riesigen Hornbrille mit einem Heftpflaster repariert. "Wo hat Dimitri eigentlich vorher gearbeitet?", will sein Gesprächspartner wissen. "Ach, in irgendeinem Atomkraftwerk. Ich glaube, in..."

Johnson & Johnson, Tennessee/Vereinigte Staaten von Amerika. Ein dickbauchiger Hüne wuchtet ein ebensolches Holzfass auf einen Pickup. Sein Kollege spuckt etwas Kautabak übers Gatter und kratzt sich den zerrupften Vollbart. Beide tragen blaue Latzhosen, Cowboy-Stiefel und Baseball-Kappen mit der Aufschrift "J&J - make Corona small again". "Alright, Partner, wieder eine Fuhre fertig", sagt der Große. "Dann sieh zu, dass du das Zeug in die Stadt karrst", antwortet der Bärtige. "Die warten da schon drauf..."

Samstag, 13. März 2021

In der Realität

Und wenn er abends vom Homeoffice ins Wohnzimmer taumelt und ein Wurstbrot isst, das so langweilig ist wie in der Kurzgeschichte von Wiglaf Droste, und immer wieder die gleichen vier Apps auf dem Smartphone aktualisiert und wieder mal viel zu viel denkt und schließlich den Kopf mit irgendeiner Streaming-Serie betäubt, dann denkt er: "Verdammt. Ich wünschte, das hier wäre Fiktion."

Montag, 15. Februar 2021

In Verkleidung

Helau. Alaaf. Weil ihr meine Weihnachtsgeschichten so lustig fandet, gibt's jetzt meine Faschingsgeschichte: Als ich die Grundschule meiner hessischen Kleinstadt besuchte, waren meine Altersgenossen und ich grundsätzlich modisch durchaus diskutabel unterwegs. Die Hosen hatten noch Schlag, die Jacken waren schon sehr gepolstert und vor allem: Cord. Mal ernsthaft, wer hat sich das ausgedacht? (Mein Vater besaß seinerzeit einen Anzug aus braunem Cord, bewahrte diesen aber glücklicherweise ausschließlich im Schrank auf.) Mir gelang es trotzdem, sämtliche stilistischen Verirrungen zu unterbieten. Und zwar an einem einzigen Tag. Einem Rosenmontag.

Ich war in der ersten Klasse zwar der beste, aber ganz sicher nicht der coolste Schüler (damals kannten wir nicht mal dieses Adjektiv), sondern gehörte eher zu den Außenseitern. Um das zu unterstreichen, wollte es das Schicksal, dass ich nur wie Niki Lauda zugehört hatte, als das Datum der schulinternen Faschingsfeier bekannt gegeben wurde. (Mit halbem Ohr - das war damals der Humor.) Also war ich überzeugt davon, meine Bildungsanstalt werde gleich am Montag enthemmt feiern, und ließ aus diesem Anlass Cordhose mit Schlag und Superplusterparka zu Hause. Stattdessen gab ich todesverachtend den Rächer der Enterbten, den Beschützer von Witwen und Waisen, den Herrn von Sherwood Forest: Robin Hood. Und stellt euch das bitte nicht so vor, wie zwei Jahrzehnte später Kevin Costner oder noch später Russel Crowe, sondern ganz klassisch wie Errol Flynn. Oder dieser Fuchs bei Disney. Wir reden also über grüne Strumpfhosen, einen ebensolchen Filzhut, einen aufgemalten (ach?) Spitzbart und natürlich Schwert, Pfeile und Bogen.

Mein Schulweg betrug etwa 500 Meter und tatsächlich stimmte es mich unterwegs ein wenig nachdenklich, dass ich exakt null Cowboys, amerikanische Ureinwohner, Astronauten oder Ritter sah. Als ich am Schulhof ankam und um die Ecke bog, bot sich mir ein grauenerregender Anblick. Und allen anderen ein recht überraschender - nämlich mich. Ich blickte in gut 100 weit aufgerissene Augenpaare, die meisten minderjährig, aber auch die Lehrerschaft, das Sekretariat und die Hausmeister waren erstaunt. Ich war der einzige Mensch auf dem gesamten Schulgelände, der ein Kostüm trug. Und natürlich blieb keine Zeit, schnell nach Hause zu fliehen und die Kleidung zu wechseln. Stattdessen musste Robin von Locksley beweisen, wie tapfer er wirklich war. Sechs Stunden plus zwei große Pausen lang war ich der Blickfang und das Hauptgesprächsthema sämtlicher vier Jahrgangsstufen. Und nicht wenige entdeckten der fünften Jahreszeit gemäß ihr Faible für humoreske Äußerungen. "Aber spieß dich nicht mit deinem Schwert auf", riet etwa meine Klassenlehrerin, nachdem sie mich aufgefordert hatte, an der Tafel vorzurechnen. Und ein Mitschüler murmelte beim Austeilen der Arbeitsblätter die Namen der bereits bedachten Schülerinnen und Schüler - bis er vor meinem Tisch lautstark rief: "Robin!" Alle hatten ihren Spaß. Und darum geht es ja bei Fasching. Außer mir. Aber darum geht es ja bei Fasching.

Denn obwohl ich am Folgetag als still in der Ecke lungernder Pirat erschien, wurden mir an jenem folgenschweren Rosenmontag drei Dinge klar: Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt. Ich hasse Fasching. Und es kommt im Leben immer auf den richtigen Zeitpunkt an.

Donnerstag, 14. Januar 2021

Beim Service II

"Das ist alles kein Problem", sagt mein neuer Freund Oleg. Das beruhigt mich, denn Oleg arbeitet bei einem großen Mobil- und Netzanbieter, kennt sich mit Problemen also bestens aus. Es war ein wenig mühselig, ihn zu erreichen, um mich beruhigen zu lassen: Zwar habe ich direkt nach Erhalt der entsprechenden SMS die darin enthaltene Servicenummer gewählt, der akustische Fragebogen von Olegs Arbeitgeber funktioniert jedoch fast so schlecht wie mein Festnetztelefon seit drei Tagen. Das funktioniert übrigens überhaupt nicht.

Unterschiedliche Automatenstimmen stellten mir verschiedene Fragen zu meiner Festnetznummer, dem Mädchennamen meiner Mutter, meiner Schuhgröße und dem Grad meiner Kurzsichtigkeit. Mein polizeiliches Führungszeugnis habe ich der Einfachheit halber komplett buchstabiert, und eventuell habe ich an einer Stelle respektlos gerülpst, worauf eine Verwandte von Siri und Alexa mit dem Hinweis reagierte, sie habe mich nicht verstanden. Nach weiteren handgestoppten achtundzwanzigeinhalb Minuten schließlich meldet sich Oleg mit leichtem osteuropäischem Akzent und einer sehr freundlichen Stimme.

Gemeinsam stellen wir die Provider-Box in meinem Arbeitszimmer zum achten Mal auf ihre Werkseinstellungen zurück, in der stillen, aber unbegründeten Hoffnung, diesmal ein anderes, ein besseres Ergebnis zu erzielen. Streng genommen erledige ich diese Aufgabe, denn Oleg hält sich ja - wie er mich gut gelaunt wissen lässt - ebenfalls im Homeoffice auf. Das Bellen seiner 14 Kampfhunde und das leise Blubbern der Bong im Hintergrund hatten mich dies bereits ahnen lassen. Ich tue so, als folge ich den Anweisungen des russischstämmigen Experten, tatsächlich beherrsche ich den Reset eines Routers aber mittlerweile mit geschlossenen Augen, nachts bei Regen und am Ende der Welt.

Aller Routine auf beiden Seiten meines Mobiltelefons zum Trotz ist auch dieser Neustart so sinn- und erfolglos wie die jene, die uns einschlägige RTL2-Doku-Soaps bisweilen zeigen. Oleg bleibt entspannt - nun kenne ich den Grund - und teilt mir fröhlich mit, dass er nicht nur den baldigen Versand einer neuen Box in Auftrag geben werde, sondern sicher sei, dass der eigens hinterlegte Hinweis "Kunde arbeitet im Homeoffice" dafür sorge, dass dieser Auftrag so schnell wie möglich erledigt werde. "So schnell wie möglich" bedeutet in Support-Kreisen meiner Erfahrung nach "mindestens drei Tage". Aber in einer kleinen beschaulichen Callcenter-Außenstelle in Bitterfeld ticken die Uhren vermutlich ohnehin ein wenig langsamer. Alles kein Problem.

Update: Eben (!) rief einer von Olegs Kollegen an. Auf meinem Festnetztelefon. Ich war tatsächlich kurz irritiert. Jedenfalls bin ich vollends beeindruckt, denn aus den erwarteten drei Tagen wurden ruckzuck drei Stunden. Gibt hoffentlich ein Extra-Steak für Olegs Hunde.

Sonntag, 10. Januar 2021

In der Nacht

Eigentlich mochte er die Bathöhle. Er hatte sie selbst eingerichtet: das Saurierskelett, die Technik, die heimelig-düstere Atmosphäre. Hierhin konnte er sich zurückziehen und neue Kraft tanken. Aber ab und zu, wenn ihm die Decke auf den Kopf fiel oder jemand ein Kapitalverbrechen begangen hatte, setzte er sich ins Batmobil und brauste durch die Nacht nach Gotham City. Verzwickte Fälle lösen, Bösewichte verprügeln - dort gab es eigentlich immer etwas zu tun.

In der letzten Zeit allerdings, nun schon seit beinahe einem Jahr, saß er fast nur noch zu Hause und dachte nach. Oder er stand auf einem von Gothams Wolkenkratzern und dachte nach. Selbst tagsüber, wenn er den lebensfrohen Milliardär spielte, dachte er immer öfter nach. Zwar galt er ohnehin als das grüblerische Mitglied der Justice League, aber selten waren seine Gedanken so dunkel gewesen wie seit jenem Tag, als sein schlimmster Feind aufgetaucht war. Sicher, der Joker war ein psychopathischer Massenmörder. Aber der neue Gegner nutzte die Schwäche der Menschen aus, und das machte ihn unbesiegbar. Fast täglich sorgte er für neue Schreckensnachrichten. Und er war zäh, dafür sorgten die verachtenswerten Gestalten da unten, die nicht an ihn glaubten und ihm dadurch seine Macht verliehen.

"Scheiß-Virus", knurrte Batman, blickte in der Dunkelheit auf die Demonstranten und dachte schon wieder nach. Über die Menschen, die starben. Und an die Menschen, die er viel zu lange nicht gesehen hatte. Das Batsignal erleuchtete den nächtlichen Himmel, als er schweigend nach Hause fuhr.