Freitag, 27. März 2020

In naher Zukunft

Ein Auto hielt mit quietschenden Reifen. Die Tür ging auf, und ein kleiner alter Mann wurde hinausgeworfen. Er war noch nicht ganz vom regennassen Asphalt aufgestanden, als das Auto davon fuhr. Der Alte war sehr dünn, trug einen zerknitterten Anzug und lehnte sich erschöpft an ein Schaufenster. Als er sein Spiegelbild sah, zuckte er zusammen. Verwirrt dreht er sich um, zog eine zerknüllte Zeitung aus dem Mülleimer und zuckte erneut. "Dresden", dachte er. "Ausgerechnet."

... AUCH UNTER RECHTSEXPERTEN UND MEDIZINERN UMSTRITTEN. DAS VERFAHREN SIEHT VOR, DASS DAS BEWUSSTSEIN DER VERURTEILTEN VOLLSTÄNDIG IN EINEN KÜNSTLICHEN KÖRPER ÜBERTRAG...

"Jetzt mach doch mal das Scheißradio aus!" Willi war schlecht gelaunt wie immer und betrunken wie meistens. Wütend warf er die halbleere Bierdose nach seinem Kameraden. Otze, dessen kahlen Schädel er nur knapp verfehlt hatte, knurrte: "Halt die Fresse, ich will das hören."

... SEI DER ZWECK DER BESTRAFUNG, VOLKSVERHETZERN VOR AUGEN ZU FÜHREN, DASS ALLE MENSCHEN GLEICH SEIEN. AUS DIESEM GR...

"Lass uns lieber Neger klatschen", brüllte Willi. Er riss eine weitere Dose auf und trank sie mit drei Schlucken leer. Über sein lautes Rülpsen grunzte Otze: "Hast Recht - macht mehr Laune." Sie sprangen aus dem rostigen VW Bus und marschierten breitbeinig die nächtliche Straße runter.

Der alte Mann starrte wieder sein Spiegelbild an. "Ausgerechnet", dachte er erneut. Ein hagerer Greis starrte zurück, mit entsetzt aufgerissenen Augen, grauen Locken und dunkler Haut. Lautes Brüllen lenkte ihn ab. Von rechts näherten sich zwei breite Gestalten, kahlgeschorene Köpfe, einer schwenkte einen Baseballschläger. "Opa", rief der eine, "das ist heute nicht dein Tag!" Der andere ergänzte: "Sowas wie dich mögen wir hier gar nicht!"

Sie bauten sich vor dem kleineren Mann auf. "Na", fragte Willi drohend, "wie heißte denn, Negerlein?" Der Alte richtete sich auf. Trotz lag in seinem Blick, als er mit dem Fuß aufstampfte. Seine Antwort wurde von einem brutalen Schlag unterbrochen. "Mein Name ist Alice..."

Freitag, 20. März 2020

Zu Hause

"Ich werde dich Freitag nennen", verkündete er stolz, "weil heute Freitag ist."

"Lassen Sie mich sofort raus", antwortete sein Gegenüber verwirrt, "ich bin doch nur der Postbote."

Donnerstag, 19. März 2020

In Quarantäne

"Das kann nicht sein", sagte Schmidt. Hinter der Schutzbrille waren seine Augen weit aufgerissen, als er auf den großen Monitor starrte. "Du meinst: Das darf nicht sein", korrigierte Müller. Er kratzte sich die zerzausten Haare unter der Stoffhaube. "Und damit hast du leider Recht." Schmidt ließ sich in seinen Bürostuhl fallen. "Was machen wir jetzt?"

Sieben Jahre lang hatten sie an dem Computerprogramm gearbeitet, das ihnen bei der Lösung des größten Problems helfen sollte, mit dem die Menschheit sich je konfrontiert sah. Vor acht Jahren waren die ersten Fälle bekannt geworden. Anfangs haben wir noch Witze darüber gemacht, dachte Schmidt. Hamster und Klopapier. Sehr lustig. Er grinste schief, als er daran dachte, wie die Welt sich seitdem verändert hatte. Als die Zahl der Toten dramatisch anstieg, hatten die Menschen erkannt, dass sie zusammenarbeiten mussten. Zunächst hatte das bedeutet: Ausgangssperre, häusliche Quarantäne. In ihren geschützten Bunkern hatten sie dabei zugesehen, wie der Planet wieder grün wurde. Wo früher Kinder gespielt hatten, tobten nun junge Wölfe umher. Wo Hochhäuser in den Himmel geragt hatten, wuchsen dichte Wälder auf den Ruinen. Die Luft war so klar wie die Meere. Das Virus hatte eine Mauer zwischen der Erde und ihren ach so intelligenten Bewohnern gezogen. Der zweite Schritt war die Arbeit an einem Programm, das Antworten liefern sollte. Ein riesiger Rechner war mit dem geballten Wissen der klügsten Köpfe gefüttert worden. Sieben Jahre später, nachdem die Menschen sich fast an die künstlich erschaffene Nahrung, an die gefilterte Luft und an den Gedanken daran gewöhnt hatten, mangels körperlicher Nähe die letzte Generation ihrer Spezies zu sein, war es endlich soweit. Das Programm lief und gab ihnen eine Antwort auf all ihre Fragen.

"Ich weiß es nicht", unterbrach Müller die Gedanken seines Kollegen. Er blickte ihn durch die leicht beschlagene Glasscheibe an, die die beiden trennte, seit sie sich kannten. "Was schlägst du vor?" Schmidt stand auf. "Sie müssen es erfahren", sagte er mit fester Stimme. "Wir haben geschworen, für die Wahrheit einzutreten." Müller nickte. "Auch wenn sie weh tut." Beide sahen zu dem großen Monitor. In leuchtend grünen Buchstaben stand dort: "Virus: Human. Help: COVID-19. Program active."

Samstag, 14. März 2020

Zu Fuß

Schritt für Schritt ging er seinen Weg. Der Sand knirschte unter seinen Sohlen. Die Sonne brannte am Tag und machte Platz für die Kälte in der Nacht, damit er merkte, wie seine Zeit verstrich. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann er losgegangen war. Oder warum. Eine Weile hatte er den Kadaver eines namenlosen Pferdes hinter sich hergezogen, um nicht ganz allein zu sein. Aber irgendwann war dieser zum Skelett geworden, und er hatte es einfach zurückgelassen. Irgendwo in der Wüste. Er war sicher, einige Male falsch abgebogen zu sein. Doch spielte das wirklich eine Rolle? Er ging seinen eigenen Weg, hatte sich vor langer Zeit verlaufen und setzte längst nur noch aus Gewohnheit einen Fuß vor den anderen. Nach dem, was er für Jahre hielt, verwandelte sich die sandige Landschaft um ihn herum irgendwann in eine blassgrüne Einöde. Vereinzelt zitterten trockene Zweige im Wind. Und einmal sah er eine bunte Blume, die tapfer ihre Blüte gerade hielt. Aber sie sah ihn nicht, und so ging er weiter. Das blasse Grün verschwand, die Wüste war wieder da. Sein Weg führte ihn geradeaus. Schritt für Schritt.

Montag, 2. März 2020

Drinnen

Kaboom. Dumpf tönten Rufe und Geräusche durch die milchigen Fenster. Als er mit einem Ärmel über die beschlagene Scheibe wischte, dachte er: "Perfekt isoliert. Genau wie ich." Nachdem die ersten Schreckensmeldungen über sein Mobiltelefon geflackert waren, hatte er sofort reagiert und es mit einer Bohrmaschine zerstört. Sein Keller war voller Konserven, Medikamente und Munition. Die Solaranlage auf dem stählernen Dach versorgte ihn mit Strom. Der Wasserbehälter war randvoll. Er konnte Monate allein überleben, und das tat er auch. Tagsüber schlief und trainierte er. Nachts saß er zusammengekauert neben der Sicherheitstür, sein Gewehr im Arm. Und lauschte der trügerischen Stille. Der Lärm am Tag war eindeutig: Die Welt, wie er sie gekannt hatte, gab es nicht mehr. Die Zivilisation war zusammengebrochen, es herrschten Gewalt und Anarchie. Während er seinen düsteren Gedanken nachhing und mürrisch auf einem Stück Trockenfleisch kaute,

wurde wenige Meter von seinem Betonbau entfernt ein weiteres Feuerwerk vorbereitet. Seit Monaten feierten die Menschen ausgelassen die neue Hoffnung für ihren Planeten. Weltweit waren sämtliche Kampfhandlungen aufgegeben worden. Jeder Staatschef und jede Regierungsorganisation hatten die Grenzen geöffnet und alles verfügbare Geld dazu verwandt, Lebensmittel und Medizin in die Hungerregionen und Krisengebiete zu fliegen. Wissenschaftler weltweit hatten gemeldet, dass die Umwelt sich mit überraschender Geschwindigkeit erholte. Die meisten Krankheiten galten als besiegt. Überall tanzten, lachten und feierten die Menschen in den Straßen. Das Funkeln des knallenden Feuerwerks leuchtete auf strahlenden Gesichtern. Kaboom.