Dienstag, 20. August 2019

Auf der Autobahn

Obwohl ich mich darum bemühe, möglichst ohne Vorurteile zu leben und defensiv Auto zu fahren, habe ich auf den Straßen der Republik ein Feindbild: sehr alte Männer in sehr schnellen Autos.

Zum einen fahren die Schrumpel-Schumachers auch 70 Jahre nach ihrer Führer-Scheinprüfung, wie sie es an der Ostfront gelernt haben: flink wie Windbeutel, zäh wie ihre höhensonnengegerbte Haut und hart wie die Rolex am rheumatischen Handgelenk. Zum anderen lässt sie ihr aufgeplustertes Ego vergessen, dass sie ihre tiefergelegten Ersatz-Schniedel zu keinem Zeitpunkt im Griff haben. Wofür ich übrigens noch einigermaßen Verständnis aufbringe, schließlich haben sie das Töfftöff in der Fahrschule noch mit einer Kurbel angeworfen.

Mit der gleichen aggressiven Souveränität, mit der sie pastellfarbene Polohemden tragen oder sich Haare vom Schrumpfsack auf die fliehende Stirn tackern lassen, begegnen sie ihren Feinden - sprich: allen anderen Verkehrsteilnehmern. Klar, wenn man augenscheinlich mehr auf dem Schweizer Konto hat als der durchschnittliche Mit-Rentner, kann man schon mal ein wenig den Blick für die Realität verlieren; die Ray Ban vor dem milchigen Triefauge trägt ihren Teil dazu bei. Also glauben die Vorstandsvorsitzenden, Oberstufenlehrer oder Geheimräte im Unruhestand, auf der forschen Fahrt vom Squash-Treffen zum Segel-Wochenende gehöre ihnen - und nur ihnen - die Autobahn, die ihnen zudem nicht selten politische Argumentationshilfe ist.

Mein Tipp: eventuell weniger blaue Pillen mit dem Edel-Cognac aus der Mahagoni-Schreibtischschublade runterspülen und stattdessen doch mal ab und zu den Blinker oder die Bremse benutzen. Und ganz ehrlich: Mit Mitte 80 muss es kein Porsche mehr sein.

Montag, 19. August 2019

Im 13. Stock

Als er auf das Fenstersims trat, atmete er tief und ruhig ein. Zum ersten Mal seit Monaten. Sein Blick schweifte über die Dächer der Häuser, ehe er nach unten sah. Zwölf Stockwerke tiefer befand sich eine dreckige Gasse. Zu schmal für das Sprungtuch der Feuerwehr. Und menschenleer. "Wer sind Sie?!" Die Stimme von rechts erschreckte ihn so sehr, dass er fast den Halt verloren hätte. Sie war laut, aber zittrig und gehörte einem kleinen Mann im grauen Anzug, der ihn entsetzt anstarrte. "Wenn Sie mir das ausreden wollen, vergessen Sie's", fügte der kleine graue Mann hinzu, nun eher zornig als zittrig. "Mein Entschluss steht fest!"

Wieder atmete er ein, inzwischen genervt. "Mir ist scheißegal, was du machst", sagte er bissig. Und fügte in Gedanken hinzu: War ja klar, dass irgendein Bekloppter die gleiche Idee hat - schließlich klappt ja nie irgendwas. "Meine Firma ist pleite, ich musste Leute entlassen", lamentierte der kleine graue Mann weiter. "Ich bin am Ende, ich..." "Alter", unterbrach er ihn, "bring's hinter dich. Und hör auf, mir deine Geschichte aufzudrängen." Ich erzähle dir meine ja auch nicht, dachte er. Aber kleiner Spoiler: Ich besitze keine eigene Firma. "Sie haben Recht", sagte der kleine graue Mann und seufzte. "Spielt ja auch eigentlich keine Rolle." "Eben. Und jetzt mach hin - dass wir hier nebeneinander stehen, ist würdelos genug." Mittlerweile waren zwei sichtlich angetrunkene Obdachlose auf sie aufmerksam geworden und deuteten aufgeregt nach oben. Der kleine graue Mann rückte seine Krawatte zurecht. "Hetzen Sie mich nicht." Er sah ihn vorwurfsvoll an. "Außerdem war ich zuerst hier."

Langsam wird das hier absurd, dachte er. "Oh, sorry - mir war nicht klar, dass man den idyllischsten Platz zwischen Spinnweben und Taubendreck reservieren muss", antwortete er ironisch. "Nun spring schon!" Seine laute Stimme ließ die kleine Menschengruppe unten zusammenzucken. Die beiden Besoffenen hatten mittlerweile Gesellschaft von zwei jungen Skatern, dem Inhaber der Pfandleihe am Ende der Gasse und einem halben Dutzend Passanten. Drei von ihnen telefonierten. Einer der Skater filmte nach oben. Na, großartig. "Wenn du's jetzt nicht hinter dich bringst, taucht hinter uns gleich ein Cop auf und erzählt uns, wir seien ihm wichtig." Eine Taube kackte ihm auf den Fuß. "Vielleicht", sagte der kleine graue Mann nachdenklich, "vielleicht stimmt das ja sogar. Vielleicht sind wir jemandem wichtig. Es könnte doch ein Zeichen sein, dass wir uns hier treffen. Ein Wink des Schicksals."

Heilige Scheiße. "Dem Schicksal, mein Freund, sind wir absolut gleichgültig." Er betonte jedes Wort, und der kleine graue Mann wich einen Schritt zurück, weiter nach rechts auf dem Fenstersims. "Nichts in meinem Leben läuft gut. Gesundheit, Job, Geld, Liebe - überall nur Pech. Und als ich es nicht mehr aushalte, steht Mr. Unscheinbar neben mir und kriegt kalte Füße. Das ist alles ein Fest!" Seine Stimme war nun sehr laut, und mit einer Hand musste er sich am Fensterrahmen festhalten, um nicht vor der neugierig nach oben starrenden Meute auf das Kopfsteinpflaster zu knallen. Obwohl das ja eigentlich sein Ziel war, schien ihm der Zeitpunkt ungeeignet. Erst klären wir, dass es so etwas wie Fügung nicht gibt.

Er holte wieder Luft, nicht tief und ruhig, sondern um weiter zu brüllen. Der kleine graue Mann unterbrach ihn mit fester Stimme: "Glauben Sie, was Sie wollen. Ich weiß, dass Sie mich vor einem schrecklichen Fehler bewahrt haben." Er lächelte. "Und dafür danke ich Ihnen." Mit einer ungelenken Bewegung kam er etwas weiter auf ihn zu, hangelte sich jedoch in das Fenster in seiner Nähe. Bevor er es schloss, steckte er noch einmal den Kopf heraus: "Tun Sie es nicht." Er lächelte wieder. "Sie sind ein guter Mensch."

Vielleicht ist genau das das Problem, dachte er, als er den kleinen grauen Mann in der Hochhauswand verschwinden sah. Unten hatte sich ein Feuerwehrfahrzeug in die enge Gasse geschoben, und die Einsatzkräfte machten die Drehleiter bereit. "Großartig", presste er zwischen den Zähnen hervor. "Sogar dazu bin ich zu blöd." Wenn er jetzt sprang, würde er auf der halb ausgefahrenen Leiter landen. Bei seinem sprichwörtlichen Glück würde er sich dabei alle Knochen brechen, aber überleben. Und dann? Langsam kroch wieder in sein Bewusstsein, weshalb er den Entschluss gefasst hatte, aus dem 13. Stock zu springen. Andererseits... Was, wenn der kleine graue Mann sich nicht geirrt hatte? Vielleicht war ihre Begegnung tatsächlich kein Zufall. Vielleicht war es besser, sich seinen Problemen zu stellen statt mit einem Sprung vor ihnen zu fliehen.

Als er zu dem Feuerwehrmann auf die Leiter kletterte, sagte er resigniert: "Sowas erlebt ihr bestimmt auch nicht alle Tage - ein Irrer redet dem anderen aus, sich vom Hochhaus zu stürzen." Sein mürrischer Retter sah ihn fragend an. "Was meinen Sie?" "Na, den anderen Kerl neben mir auf dem Fenstersims." Der Feuerwehrmann guckte verständnislos. "Da war niemand. Sie standen da oben, haben mit sich selbst gequatscht. Und geschrien." Sie kletterten von der Leiter. "Aber... der kleine graue Mann..?" Der Feuerwehrmann schüttelte den Kopf und reichte ihm die obligatorische Decke. "Ehrlich, Mann - da waren nur Sie." Mit einem Grinsen fügte er hinzu: "War bestimmt Ihr Schutzengel." Ein kleiner Mann im grauen Anzug. Klar.

"Bestimmt", sagte er leise. "Das ist mal wieder typisch." Er sah die schmale Gasse entlang, vorbei am Feuerwehrauto und den Schaulustigen, auf die Stadt. Er musste lächeln, als er ruhig und tief einatmete. Zum vierten Mal an diesem verrückten Tag.