Dienstag, 6. April 2021

Im Spiegel

"Aber, Mum", sagte Elana in einer Mischung aus Verzweiflung und Trotz, "die anderen Mädchen schminken sich auch." Amüsiert betrachtete Mortiana das Gesicht ihrer Tochter. Sie hatte die gleiche blasse Haut wie sie, nun allerdings mit zuviel Rouge versehen, mit zwei Kleksen Tusche über den Augen und mit verschmiertem Lippenstift, dessen Farbe immerhin von einem angenehmen Blutrot war. "Die anderen Mädchen", sagte sie tadelnd, mit dem leicht singenden Akzent ihrer fernen Heimat, "haben aber im Gegensatz zu uns ein Spiegelbild und können daher sehen, was sie tun."

Montag, 22. März 2021

Im Labor

Viele grübeln ja gerade darüber nach, welcher Impfstoff der beste ist. Ich hab mich per Drohne mal bei den großen Herstellern in aller Welt umgeschaut.

Biontech-Pfizer, High-Tech-Labor in Marburg/Deutschland. Zwei attraktive Menschen verschiedenen Geschlechts in strahlend sauberen Kitteln stehen vor dem dreidimensionalen Hologramm eines Erlenmeyerkolbens und bedienen mit virtuellem Handschuh und entsprechender Brille einen animierten Bunsenbrenner. "... und wenn unsere Berechnungen stimmen, hilft das Vakzin auch gegen Fernweh." "Na, das wird ja bald kaum noch nötig sein. Wenn wir erst die Welt gerettet haben, darf man ja wieder reisen." "Auch wieder wahr. Apropos: Sehen wir uns am Samstag am Kronensee?" "Wenn du bei der Regatta wieder nur Zweiter werden möchtest..."

AstraZeneca, Marketing-Abteilung in Södertälje/Schweden. Ein halbes Dutzend Männer mittleren Alters in dunklen Anzügen und mit gelockerten Krawatten sitzt an einem langen Marmortisch. Einige weinen, manche trinken harten Alkohol aus Flaschen. Einer von ihnen blickt von einem zerwühlten Häufchen Kokain auf: "Wissen wir denn schon, wer damit an die Öffentlichkeit gegangen ist?" Ein anderer starrt sehnsuchtsvoll aus dem geöffneten Fenster auf den Betonboden in der Tiefe: "Es stand im Beipackzettel. Die Nerds sagen, das muss so." Ein dritter springt auf, sein Designerstuhl fällt um: "Das muss so?! Das MUSS so..?"

Gamaleja-Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie in Moskau/Russland. In einem leicht heruntergekommenen Labor sitzen zwei Männer auf wackeligen Hockern. Sie tragen ergraute Kittel und Cordhosen in verwaschenem Graubraun. Ihre Frisuren stammen aus den 70er Jahren, dasselbe gilt für ihre Backenbärte und die Laborausstattung. "Wer hat die aktuelle Lieferung überprüft, Genosse?", fragt der eine, während er versucht, mit einem dreckigen Geschirrtuch ein gesplittertes Reagenzglas zu reinigen. "Dimitri", antwortet der andere, der gerade das Kassengestell seiner riesigen Hornbrille mit einem Heftpflaster repariert. "Wo hat Dimitri eigentlich vorher gearbeitet?", will sein Gesprächspartner wissen. "Ach, in irgendeinem Atomkraftwerk. Ich glaube, in..."

Johnson & Johnson, Tennessee/Vereinigte Staaten von Amerika. Ein dickbauchiger Hüne wuchtet ein ebensolches Holzfass auf einen Pickup. Sein Kollege spuckt etwas Kautabak übers Gatter und kratzt sich den zerrupften Vollbart. Beide tragen blaue Latzhosen, Cowboy-Stiefel und Baseball-Kappen mit der Aufschrift "J&J - make Corona small again". "Alright, Partner, wieder eine Fuhre fertig", sagt der Große. "Dann sieh zu, dass du das Zeug in die Stadt karrst", antwortet der Bärtige. "Die warten da schon drauf..."

Samstag, 13. März 2021

In der Realität

Und wenn er abends vom Homeoffice ins Wohnzimmer taumelt und ein Wurstbrot isst, das so langweilig ist wie in der Kurzgeschichte von Wiglaf Droste, und immer wieder die gleichen vier Apps auf dem Smartphone aktualisiert und wieder mal viel zu viel denkt und schließlich den Kopf mit irgendeiner Streaming-Serie betäubt, dann denkt er: "Verdammt. Ich wünschte, das hier wäre Fiktion."

Montag, 15. Februar 2021

In Verkleidung

Helau. Alaaf. Weil ihr meine Weihnachtsgeschichten so lustig fandet, gibt's jetzt meine Faschingsgeschichte: Als ich die Grundschule meiner hessischen Kleinstadt besuchte, waren meine Altersgenossen und ich grundsätzlich modisch durchaus diskutabel unterwegs. Die Hosen hatten noch Schlag, die Jacken waren schon sehr gepolstert und vor allem: Cord. Mal ernsthaft, wer hat sich das ausgedacht? (Mein Vater besaß seinerzeit einen Anzug aus braunem Cord, bewahrte diesen aber glücklicherweise ausschließlich im Schrank auf.) Mir gelang es trotzdem, sämtliche stilistischen Verirrungen zu unterbieten. Und zwar an einem einzigen Tag. Einem Rosenmontag.

Ich war in der ersten Klasse zwar der beste, aber ganz sicher nicht der coolste Schüler (damals kannten wir nicht mal dieses Adjektiv), sondern gehörte eher zu den Außenseitern. Um das zu unterstreichen, wollte es das Schicksal, dass ich nur wie Niki Lauda zugehört hatte, als das Datum der schulinternen Faschingsfeier bekannt gegeben wurde. (Mit halbem Ohr - das war damals der Humor.) Also war ich überzeugt davon, meine Bildungsanstalt werde gleich am Montag enthemmt feiern, und ließ aus diesem Anlass Cordhose mit Schlag und Superplusterparka zu Hause. Stattdessen gab ich todesverachtend den Rächer der Enterbten, den Beschützer von Witwen und Waisen, den Herrn von Sherwood Forest: Robin Hood. Und stellt euch das bitte nicht so vor, wie zwei Jahrzehnte später Kevin Costner oder noch später Russel Crowe, sondern ganz klassisch wie Errol Flynn. Oder dieser Fuchs bei Disney. Wir reden also über grüne Strumpfhosen, einen ebensolchen Filzhut, einen aufgemalten (ach?) Spitzbart und natürlich Schwert, Pfeile und Bogen.

Mein Schulweg betrug etwa 500 Meter und tatsächlich stimmte es mich unterwegs ein wenig nachdenklich, dass ich exakt null Cowboys, amerikanische Ureinwohner, Astronauten oder Ritter sah. Als ich am Schulhof ankam und um die Ecke bog, bot sich mir ein grauenerregender Anblick. Und allen anderen ein recht überraschender - nämlich mich. Ich blickte in gut 100 weit aufgerissene Augenpaare, die meisten minderjährig, aber auch die Lehrerschaft, das Sekretariat und die Hausmeister waren erstaunt. Ich war der einzige Mensch auf dem gesamten Schulgelände, der ein Kostüm trug. Und natürlich blieb keine Zeit, schnell nach Hause zu fliehen und die Kleidung zu wechseln. Stattdessen musste Robin von Locksley beweisen, wie tapfer er wirklich war. Sechs Stunden plus zwei große Pausen lang war ich der Blickfang und das Hauptgesprächsthema sämtlicher vier Jahrgangsstufen. Und nicht wenige entdeckten der fünften Jahreszeit gemäß ihr Faible für humoreske Äußerungen. "Aber spieß dich nicht mit deinem Schwert auf", riet etwa meine Klassenlehrerin, nachdem sie mich aufgefordert hatte, an der Tafel vorzurechnen. Und ein Mitschüler murmelte beim Austeilen der Arbeitsblätter die Namen der bereits bedachten Schülerinnen und Schüler - bis er vor meinem Tisch lautstark rief: "Robin!" Alle hatten ihren Spaß. Und darum geht es ja bei Fasching. Außer mir. Aber darum geht es ja bei Fasching.

Denn obwohl ich am Folgetag als still in der Ecke lungernder Pirat erschien, wurden mir an jenem folgenschweren Rosenmontag drei Dinge klar: Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt. Ich hasse Fasching. Und es kommt im Leben immer auf den richtigen Zeitpunkt an.

Donnerstag, 14. Januar 2021

Beim Service II

"Das ist alles kein Problem", sagt mein neuer Freund Oleg. Das beruhigt mich, denn Oleg arbeitet bei einem großen Mobil- und Netzanbieter, kennt sich mit Problemen also bestens aus. Es war ein wenig mühselig, ihn zu erreichen, um mich beruhigen zu lassen: Zwar habe ich direkt nach Erhalt der entsprechenden SMS die darin enthaltene Servicenummer gewählt, der akustische Fragebogen von Olegs Arbeitgeber funktioniert jedoch fast so schlecht wie mein Festnetztelefon seit drei Tagen. Das funktioniert übrigens überhaupt nicht.

Unterschiedliche Automatenstimmen stellten mir verschiedene Fragen zu meiner Festnetznummer, dem Mädchennamen meiner Mutter, meiner Schuhgröße und dem Grad meiner Kurzsichtigkeit. Mein polizeiliches Führungszeugnis habe ich der Einfachheit halber komplett buchstabiert, und eventuell habe ich an einer Stelle respektlos gerülpst, worauf eine Verwandte von Siri und Alexa mit dem Hinweis reagierte, sie habe mich nicht verstanden. Nach weiteren handgestoppten achtundzwanzigeinhalb Minuten schließlich meldet sich Oleg mit leichtem osteuropäischem Akzent und einer sehr freundlichen Stimme.

Gemeinsam stellen wir die Provider-Box in meinem Arbeitszimmer zum achten Mal auf ihre Werkseinstellungen zurück, in der stillen, aber unbegründeten Hoffnung, diesmal ein anderes, ein besseres Ergebnis zu erzielen. Streng genommen erledige ich diese Aufgabe, denn Oleg hält sich ja - wie er mich gut gelaunt wissen lässt - ebenfalls im Homeoffice auf. Das Bellen seiner 14 Kampfhunde und das leise Blubbern der Bong im Hintergrund hatten mich dies bereits ahnen lassen. Ich tue so, als folge ich den Anweisungen des russischstämmigen Experten, tatsächlich beherrsche ich den Reset eines Routers aber mittlerweile mit geschlossenen Augen, nachts bei Regen und am Ende der Welt.

Aller Routine auf beiden Seiten meines Mobiltelefons zum Trotz ist auch dieser Neustart so sinn- und erfolglos wie die jene, die uns einschlägige RTL2-Doku-Soaps bisweilen zeigen. Oleg bleibt entspannt - nun kenne ich den Grund - und teilt mir fröhlich mit, dass er nicht nur den baldigen Versand einer neuen Box in Auftrag geben werde, sondern sicher sei, dass der eigens hinterlegte Hinweis "Kunde arbeitet im Homeoffice" dafür sorge, dass dieser Auftrag so schnell wie möglich erledigt werde. "So schnell wie möglich" bedeutet in Support-Kreisen meiner Erfahrung nach "mindestens drei Tage". Aber in einer kleinen beschaulichen Callcenter-Außenstelle in Bitterfeld ticken die Uhren vermutlich ohnehin ein wenig langsamer. Alles kein Problem.

Update: Eben (!) rief einer von Olegs Kollegen an. Auf meinem Festnetztelefon. Ich war tatsächlich kurz irritiert. Jedenfalls bin ich vollends beeindruckt, denn aus den erwarteten drei Tagen wurden ruckzuck drei Stunden. Gibt hoffentlich ein Extra-Steak für Olegs Hunde.

Sonntag, 10. Januar 2021

In der Nacht

Eigentlich mochte er die Bathöhle. Er hatte sie selbst eingerichtet: das Saurierskelett, die Technik, die heimelig-düstere Atmosphäre. Hierhin konnte er sich zurückziehen und neue Kraft tanken. Aber ab und zu, wenn ihm die Decke auf den Kopf fiel oder jemand ein Kapitalverbrechen begangen hatte, setzte er sich ins Batmobil und brauste durch die Nacht nach Gotham City. Verzwickte Fälle lösen, Bösewichte verprügeln - dort gab es eigentlich immer etwas zu tun.

In der letzten Zeit allerdings, nun schon seit beinahe einem Jahr, saß er fast nur noch zu Hause und dachte nach. Oder er stand auf einem von Gothams Wolkenkratzern und dachte nach. Selbst tagsüber, wenn er den lebensfrohen Milliardär spielte, dachte er immer öfter nach. Zwar galt er ohnehin als das grüblerische Mitglied der Justice League, aber selten waren seine Gedanken so dunkel gewesen wie seit jenem Tag, als sein schlimmster Feind aufgetaucht war. Sicher, der Joker war ein psychopathischer Massenmörder. Aber der neue Gegner nutzte die Schwäche der Menschen aus, und das machte ihn unbesiegbar. Fast täglich sorgte er für neue Schreckensnachrichten. Und er war zäh, dafür sorgten die verachtenswerten Gestalten da unten, die nicht an ihn glaubten und ihm dadurch seine Macht verliehen.

"Scheiß-Virus", knurrte Batman, blickte in der Dunkelheit auf die Demonstranten und dachte schon wieder nach. Über die Menschen, die starben. Und an die Menschen, die er viel zu lange nicht gesehen hatte. Das Batsignal erleuchtete den nächtlichen Himmel, als er schweigend nach Hause fuhr.

Mittwoch, 23. Dezember 2020

An Weihnachten

"Du hast leicht reden", sagte der Schachspieler, der die schwarzen Figuren bewegte, ohne den Blick vom Brett zu nehmen. "Du bist immerhin der Held in unserer Geschichte. Du und dein schlecht gelaunter Kumpel." "Ich sage ja nur, dass es ganz so einfach eben nicht ist", meinte der Schachspieler, der die weißen Figuren bewegte, und rückte mit seiner Dame vor. "Immerhin wurde nach meinem Tod meine Lebensgeschichte komplett geändert."

"Schon klar, die Sache mit der Limo", knurrte sein Gegenüber. "Aber dein Mythos ist wenigstens positiv und freundlich - lustige Rentiere, schicke rote Klamotten, Kinder freuen sich... Da juckt wirklich niemanden, dass man dir ursprünglich mal einen Heiligenschein angedichtet hat." Er schob zögerlich einen Bauern über das Schachbrett. "Du vergisst da etwas", antwortete sein weißbärtiger Gesprächspartner und lächelte, als der andere erstaunt den Kopf hob. "Du vergisst, wieviel Arbeit ich habe. Zwei volle Nächte pro Jahr bin ich unterwegs, in verpesteter Luft, trotz Zentralheizungen und sogar jetzt, wenn die da unten sich gegenseitig das Lebenslicht aushusten. Das ist doppelt soviel Arbeit wie früher, als der Juniorchef noch eine Tour übernommen hat, wenn er mal wieder seine kindliche Phase hatte."

"Du Armer", grunzte sein Gegner ironisch. "Ich wurde über die Jahrhunderte degradiert - früher waren meine Leute in den Augen der Menschen sowas wie dein Boss. Heute taugen wir allenfalls als Kinderschreck, wenn die lieben Kleinen nicht parieren wollen. Apropos..." Er parierte mit einem Läufer den jüngsten Zug seines Gegenübers, was diesen zu einem Seufzen veranlasste. "Einer muss den Job nun mal machen", sagte der Bärtige, schob eher achtlos einen Turm nach vorne und erhob sich. "Das ist mein Stichwort - ich muss los. Und nun lach mal wieder, Krampi. Es ist Weihnachten." Während er durch den Schnee zu seinem Schlitten stapfte, machte der andere seinen Zug und murmelte: "Arschloch." Dann rief er ihm hinterher: "Übrigens, Santa - schachmatt!"

Sonntag, 20. Dezember 2020

Meine vierte Weihnachtsgeschichte

Meine vierte Weihnachtsgeschichte: Ich musste eine Weile überlegen, ehe mir tatsächlich ein weiteres weihnachtliches Erlebnis einfiel. Und ich bin gar nicht sicher, ob ich in der Erinnerung nicht vielleicht zwei Ereignisse zu einem mache oder einige Akteure falsch zuordne. Wenn man viele Winter erlebt hat, kommt das schon mal vor. Jedenfalls hat sich wohl Folgendes so oder so ähnlich zugetragen: Als meine Verwandtschaft noch deutlich umfangreicher besetzt war als heute, wurden die Feiertage bisweilen gemeinsam begangen. Man besuchte sich gegenseitig, es ging tatsächlich mehr um das Zusammensein als um Geschenke.

Es mag Ende der 80er Jahre gewesen sein, als eines jener Treffen bei uns zu Hause stattfand. Man platzierte sich gut gelaunt am Esstisch, um im gewohnten 30-minütigen Rhythmus ein Festtagsmahl einzunehmen. Weihnachten in dieser Konstellation bedeutete seinerzeit auch sinnlose Völlerei. Um dem juvenilen Jesus nicht nur durch stete Kalorienzufuhr, sondern auch angemessen erleuchtet zu huldigen, stapfte mein Vater als Herr des Hauses entschlossen auf unseren altgedienten Plastik-Christbaum zu und drehte an einer der elektrischen Kerzen, um selbigen in all seiner Spät-80er-Pracht erstrahlen zu lassen. Allein: Es blieb vergleichsweise dunkel. Nicht ein einziges der brandsicheren Kerzenimitate tat seinen Dienst. Natürlich konnte mein alter Herr als versierter Heimwerker das nicht auf sich sitzen lassen. Und so begann er, jede der etwa 50 kleinen Lampen einzeln zu untersuchen und mit seinem legendären Schraubendreher - der seit Jahrzehnten den Kampfnamen "der kleine Dicke" trug und noch immer trägt - abzuklopfen. Nach einer Weile trat mein ältester Bruder - seines Zeichens gelernter Elektriker - an seine Seite. Und kurz darauf sah sich der Kunststoffbaum umringt von einem halben Dutzend motivierter Experten, die ihn ausgiebig betrachteten und befingerten. Heller wurde es davon jedoch nicht.

Meine Nichte war damals zehn Jahre alt und hatte sich die Operation "Es werde Licht" die ganze Zeit über interessiert angeschaut. Nachdem sie zunächst ein halbes Stück des "Hühnerfutterkuchens" meiner Mutter (ich erkläre gerne auf Nachfrage, was das ist) gegessen hatte, deutete sie mit ihrer Gabel auf die Steckdose und äußerte einen Vorschlag: "Steckt doch mal den Stecker rein." Was soll ich sagen? Mit Strom funktioniert elektrisches Licht tatsächlich am besten. Und das war auch in den 80ern schon so.

Sonntag, 13. Dezember 2020

Meine dritte Weihnachtsgeschichte

Meine dritte Weihnachtsgeschichte: Irgendwann in den 90ern hatte der Nikolaus (der eigentlich der Weihnachtsmann war) offenbar sämtliche Orte auf der Welt persönlich besucht - als Ergänzung zu seinem etablierten Konzept, Geschenkpakete durch Schornsteine zu drücken. Nur ein kleines Dorf in Mittelhessen hatte er bislang ausgelassen.

Das konnte der örtliche Lebensmittelmarkt natürlich nicht hinnehmen und engagierte daher einen Nikomann-Stellvertreter, um die gleichfalls örtliche Landbevölkerung gar festlich zu unterhalten. Insbesondere der Nachwuchs sollte daran erinnert werden, dass es sich lohne, brav zu sein statt rebellisch. Am 6. Dezember wurde der Parkplatz des Unternehmens daher geräumt, sämtliche Einwohner versammelten sich, und zum vereinbarten Zeitpunkt landete ein Hubschrauber. An Bord: der Weihnachtslaus-Doppelgänger. Als dieser den Heli verließ, um die erwartungsvoll glühenden Kleinen zu begrüßen, dauerte es handgestoppte anderthalb Sekunden, bis das Gelände komplett entvölkert war. Die Kinder rannten brüllend zu ihren Eltern, überall Geschrei, Tränen, Panik. Selten war eine Idee der Marktleitung derart krachend gescheitert (und wir reden über einen Laden, in dem Südfrüchte unter "regional" einsortiert werden).

Statt eines beleibten älteren Herrn mit weißem Bart hatten die Organisatoren nämlich einen mageren Studenten angemietet. Und der trug nicht nur schlotternde rote Frotee-Bekleidung, sondern vor allem eine ebenso schlecht sitzende Plastikmaske, die sein Gesicht zu drei Vierteln bedeckte. Stellt euch Doctor Doom mit Fusselbart vor oder das Phantom der Oper in Quarantäne. Jedenfalls nichts, was aufgeregte Buben und Mädel im Äpfel- und Nüsserausch in feierliche Stimmung versetzt. Es war übrigens das letzte Mal, dass der Markt sowas an den Start brachte. Aber seitdem glaubt hier sowieso niemand mehr an den Dings... Niko... Weihnachts... wasauchimmer. Aber alle sind das ganze Jahr über brav. Bestimmt fällt mir noch eine vierte Geschichte ein, die aber ein anderes Mal erzählt werden soll.

Sonntag, 6. Dezember 2020

Meine zweite Weihnachtsgeschichte

Diese Geschichte spielt gar nicht in der Adventszeit, aber immerhin in einer Kirche und zwar im Sommer des Jahres 1986. Ich war 13 Jahre alt, und kurze Zeit darauf verließen meine Eltern und ich jene Kleinstadt am Main. Was im Übrigen nichts mit den geschilderten Ereignissen zu tun hatte, sondern damit, dass mein Vater die Frührente antrat und es ihn und seine Gattin in deren Heimat zog. In diesem Sommer jedenfalls war über ziemlich viel Gras gewachsen, glücklicherweise auch darüber, wie ich als gesprächiger Hirte das Krippenspiel ruiniert hatte. Einzig meine Mutter erinnerte sich noch Jahrzehnte später daran, aber das gehört wohl zu ihrem Job. Nun begab es sich also, dass für mich der zweite Schritt anstand, um ein vollwertiges Gemeindeglied (so nannten die das wirklich, da fehlt leider keine Silbe) zu werden. Zwar hatte ich das Krippenspiel der einen evangelischen Kirchengemeinde veredelt, aber nur, weil ich dort getauft worden war und meine Reli-Lehrerin die Inszenierung übernommen hatte. Denn eigentlich gehörte ich wegen eines Umzugs inzwischen zur anderen evangelischen Gemeinde - und dort sollte ich auch konfirmiert werden.

Für mich die Gelegenheit, meiner eigenen Legende ein erweitertes Publikum zu verschaffen. Und zwar folgendermaßen: Nachdem ich den offenbar traditionellen und obligatorischen Termin beim Fotografen hinter mich gebracht hatte, stand der Konfirmationsgottesdienst auf dem Programm. Die Fotos werdet ihr übrigens niemals sehen, denn ich versuche darauf augenscheinlich, "cool" zu gucken, was für einen pickeligen 13-Jährigen nicht nur kaum möglich, sondern zudem eine sehr dumme Idee ist. In meinem Kopf grinste ich wie Billy Idol, tatsächlich aber einfach nur schief. Zur Feier jedenfalls trugen wir, um das Ende des viel zu langen Konfirmandenunterrichts zu zelebrieren, alberne Klamotten und hatten genau zwei Gedanken in unseren pubertierenden Hirnen: 1. Wann gibt's die Kohle? 2. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Gut, Punkt zwei variierte bei uns zehn frommen Mädlein und Knaben. Und am Wortlaut erkennt ihr: Das ist eines der zehn Gebote. Eins davon musste sich jeder merken und nach Genuss von Messwein und Oblate vor versammelter Gemeinde aufsagen.

Die Reihenfolge war klar festgelegt, weil ein Mädchen in unserer Gruppe eine Lernbehinderung hatte und sich nur das erste Gebot merken konnte. Ich wusste also, solange ich Nummer acht drauf habe, ist alles gut. Gar nichts war gut. Etwa anderthalb Minuten vor Beginn der Show fiel der Guten nämlich auf, dass sie sich nicht das erste, sondern das zweite Gebot merken konnte. Jetzt wäre es ja pfiffig gewesen, sie einfach mit jemand anderem tauschen zu lassen. Aber stattdessen verschoben sich die aufzusagenden Gebote jeweils um eins. Statt der Sache mit dem Lügen war meine Aufgabe also nun die mit dem Haus. Ihr ahnt, was passierte. Als ich an der Reihe war, sagte ich laut und deutlich in die weihevolle Stille: "Du sollst nicht falsch Zeugnis... ach, Scheiße!" Dass ich danach perfekt das neunte Gebot aufsagte, ging ein wenig im anschließenden Tumult unter. Meiner erneut sehr dunkelrot angelaufenen Mutter gelang es übrigens, mir quer durch den Raum mit einem einzigen Blick zu signalisieren, dass sie gedachte, das fünfte Gebot ausnahmsweise zu ignorieren. Es war ein Fest. Spontan fällt mir gerade eine weitere, eine echte Weihnachtsgeschichte ein, aber diese soll ein anderes Mal erzählt werden.

Dienstag, 1. Dezember 2020

Auf der Jagd

Er war auf der Jagd. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Sein Atem gefror in der klaren Nachtluft. Der Vollmond erhellte den Wald. Vor wenigen Minuten hatte er die Witterung aufgenommen, nun folgte er den Spuren, die seine Beute hinterlassen hatte. Zerbrochene Zweige, zertretenes Moos. Keine Herausforderung für einen erfahrenen Jäger. Als er auf die Lichtung trat, atmete er tief ein. Der Geruch war nun ganz nah. Eine Mischung aus Angst und Erschöpfung. Er drehte leicht den Kopf und spannte jeden Muskel. Sein Opfer kauerte sich in den Schatten eines Baums und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Langsam erhob er sich und ließ ein leises Knurren hören. Dann blickte er zum Mond und stieß ein lautes Heulen aus.

Das Heulen war markerschütternd. Verzweifelt krallten sich seine Finger in die Borke des Baumstamms. Was da vor ihm auf der Lichtung stand, schien einem Alptraum entsprungen. Aber die eisige Luft und das helle Mondlicht erinnerten ihn daran, dass er hellwach war. Er nahm allen Mut zusammen und ließ sich nach hinten fallen. Sprang auf und rannte in die Dunkelheit. Weg von dem Heulen, von den Klauen und den Zähnen. Keuchend hetzte er durch das Unterholz. Äste schlugen ihm ins Gesicht, zerrissen seine Kleidung. Sein Atem gefror in der klaren Nachtluft. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Er war auf der Flucht.

Sonntag, 29. November 2020

Meine Weihnachtsgeschichte

Meine Kindheit habe ich in einer Kleinstadt im Rhein-Main-Gebiet verbracht. Für eine echte Stadt zu winzig und provinziell, für ein Dorf zu verbaut und hässlich. Das Leben fand hinter verrosteten Eisenzäunen statt. Gelebte Badesalz-Sketche. Im Alter von elf Jahren wurde ich genötigt, am Krippenspiel einer der beiden evangelischen Kirchengemeinden teilzunehmen. Ich gab wenig enthusiastisch, aber fein nuanciert den zweiten Schäfer von links. Einen Charakter, der durch bloße Präsenz überzeugte.

Auf der Bühne der Gemeindehalle stand eine Pappwand, die ebenfalls etwas darstellte, nämlich den Backstage-Bereich. Nachdem mein Kumpel Robert und ich unseren Auftritt bravourös hinter uns gebracht hatten, verbrachten wir die restliche Dauer des Stücks genau dort. Hinter einem Pappkarton. Auf der Bühne. Vor der die versammelte Gemeinde saß, inklusive sämtlicher Verwandter. Und unterhielten uns angeregt - unter anderem über den aktuellen "Die Spinne"-Comic und eine geplante Radtour. Angeregt und lautstark. Lauter als die eigentlichen Protagonisten, also des späteren Lattengustls erste Geburtstagsgäste. Auf das Publikum muss das mindestens befremdlich gewirkt haben. "Wer seid ihr, Reisende?" "Der Jürgen kommt auch!" "Wir sind die heiligen..." "... zu dritt isses auch lustiger!"

Vermutlich waren wir unserer Zeit voraus und unsere Zuhörer einfach noch nicht bereit für soviel Avantgarde. Wir selbst bekamen gar nicht mit, dass wir bis zur letzten Bankreihe gut zu hören waren. Ich verstand daher weder, warum meine Mutter mich später mit hochrotem Kopf - einer Mischung aus Wut und Scham - erst aus der Halle und dann nach Hause zerrte. Noch konnte ich mir erklären, weshalb die Gattin unseres Pfarrers, die gleichzeitig meine Reli-Lehrerin war, die gleiche Färbung angenommen hatte. Und was ich nicht mal ahnte: Anderthalb Jahre später sollte ich meine Vorstellung locker überbieten. In der anderen evangelischen Gemeinde. Wenn schon, denn schon. Aber das ist eine andere Geschichte, und sie soll ein anderes Mal erzählt werden.

Dienstag, 24. November 2020

Im Konzert

"Es geht eben nix über Livemusik", brüllte er ihr ins Ohr, um gegen die kreischenden Gitarren, wummernden Bässe und dröhnenden Drums anzukommen. "Ja", schrie sie zurück und erwiderte sein Grinsen. Gemeinsam stürzten sie verschwitzt nach vorne, genossen es, eins mit der Musik zu werden. Natürlich kannten sie jeden Text, sagen Zeile um Zeile mit und grölten ausgelassen den Refrain. Wenn sie ihre Haare schüttelten, flogen Schweißtropfen. Sie merkten gar nicht, wie anstrengend das Tanzen war, weil die Töne sie davontrugen, auf einer wilden Flamme, die im Rhythmus zuckte. Die grellen Lichter, die Lautstärke der Instrumente - direkt vor den Boxen zappelten sie ausgelassen zu ihren Lieblingssongs. Plötzlich klingelte es an der Haustür. Rasch griff sie zur Fernbedienung und stellte die Stereoanlage leiser, während er sein Hemd richtete, bevor dem Postboten öffnete. "Wir bestellen zuviel", meinte sie. "Alles aus Langeweile", gab er zu.

Sonntag, 8. November 2020

Im Herbst

"Ich trau mich nicht." Ängstlich guckte sie nach unten. Der Boden war kaum zu erkennen. "Ach was", sagte ihr Nachbar. "Du musst einfach nur loslassen. Ist ganz einfach. Haben Tausende vor dir gemacht. Und es wird auch langsam Zeit." Sie war nicht überzeugt. "Aber was passiert dann?", fragte sie. "Lande ich wirklich weich und treffe alte Freunde wieder?" Der Nachbar wurde ungeduldig. "Natürlich", meinte er. "Und wenn du Glück hast, lernst du vorher noch fliegen." Sie seufzte, nahm allen Mut zusammen und ließ los. Ein Windhauch erfasste sie, sie segelte mehrere Meter durch die Luft und rief: "Hui!" Dann landete sie ganz sanft auf dem Haufen der anderen Blätter und dachte ein letztes Wort: "Winter."

Donnerstag, 5. November 2020

In Schweden

"Ich finde die Dinger gruselig", sagte sie und blickte angewidert auf die Plastikfigur, die seit ein paar Kilometern am Rückspiegel baumelte. "Was ist denn daran gruselig?", gab er zurück, die Augen auf die Straße gerichtet. "Der kleine Kerl ist doch putzig." Er hatte den Troll an der Tankstelle gekauft und verkündet: "Nun sind wir bereit für unsere Tour durch Schweden - Trolle bringen Glück." Jetzt fragte er gut gelaunt: "Warum haben die Kerlchen eigentlich immer solche lustigen Stupsnasen?" Sie grummelte: "Das ist wie mit Gott. Irgendwann hat da jemand entschieden, dass alter Mann mit Bart Kanon ist." Er lächelte.

"Der guckt so unheimlich", meinte sie. "Irgendwie kriege ich Gänsehaut." Der Plastiktroll schien sie mit seinen schwarzen Augen anzustarren, die unter der lila Wuschelfrisur hervorstachen. "Okay, okay, schon verstanden", antwortete er, riss die Figur vom Innenspiegel und warf ihn ins Handschuhfach. "Zufrieden?" "Zumindest beruhigt", sagte sie und machte ein Nickerchen.

Als sie wach wurde, fiel ihr Blick als erstes auf den Troll, der wieder unterm Rückspiegel hing und sie ansah. "Was soll das denn?", blaffte sie. "Wieso hängt der wieder da?" "Keine Ahnung", sagte er und wirkte ehrlich überrascht. "Ist mir gar nicht aufgefallen. Bist du sicher, dass du ihn nicht im Halbschlaf wieder hingehängt hast?" "Ja. Da bin ich ganz sicher." Langsam wurde sie wütend. An der nächsten Raststätte machten sie Halt, und er warf den Troll in eine Mülltonne. Als er den Motor anließ, sagte er: "So, das dürfte geklärt sein." Sie sah aus dem Seitenfenster und betrachtete die schwedische Landschaft.

Einige Kilometer weiter fuhr er plötzlich an den Straßenrand. "Was ist..?", begann sie, aber dann sah sie es. Der Troll hing wieder am Rückspiegel. Und er starrte sie an. "Das gibt's doch nicht, verdammter Mist", keuchte er, riss die Figur wieder ab und stieg aus. Sie sah, wie er sein Feuerzeug aus der Hosentasche kramte und den brennenden Troll auf den Boden warf. Dann trat er mehrfach auf den verschmorten Plastikhaufen ein. Als er einstieg, sahen sie sich an. "Werden wir verrückt?", fragte er. Sie zögerte mit einer Antwort: "Ich... weiß es nicht."

Es wurde langsam dunkel, und er hätte das Auto fast in den Gegenverkehr gezogen, als sie beide mit weit aufgerissenen Augen auf den kleinen Troll starrten, der wieder am Innenspiegel hing. "Jetzt reicht's", keuchte er, fuhr rechts ran, riss die Figur ab und stampfte vor den Wagen. Im Scheinwerferlicht sah sie, wie er den Troll mit seinem Taschenmesser zerschnitt und die Einzelteile ins Gebüsch warf. Dann rannte er zum Fahrzeug zurück, öffnete die Tür und sagte mit brüchiger Stimme: "Ich... das... kann doch alles gar nicht..."

Weiter kam er nicht. Eine riesige Hand hatte ihn von hinten gepackt und in das Zwielicht zwischen Scheinwerfer und schwedischer Nacht gezogen. Entsetzt starrte er den Angreifer an und erkannte ihn sofort. Die lila Wuschelhaare, die schwarzen Knopfaugen - aber der Troll war nun hünenhaft und haarig und offensichtlich sehr schlecht gelaunt. Und sein Gesicht... Statt der Stupsnase und des verschmitzten Grinsens hatte er eine groteske Fratze, wie die bizarre Parodie auf skandinavische Fabelwesen, völlig verzerrt und entstellt und laut brüllend. Als der Troll mit einer Pranke seinen Kopf zerquetschte, dachte er: "Scheiße - was, wenn Gott am Ende auch..?"

Sie schrie und konnte nicht mehr aufhören. Starr vor Angst sah sie zu, wie das Monster im Halbdunkel sein blutiges Abendbrot zu sich nahm. Dann dreht es sich zu ihr um und glotzte sie durch die Windschutzscheibe an. "Er guckt wirklich unheimlich", dachte sie, als der Troll auf sie zukam.