Montag, 13. Januar 2014

Herzensangelegenheiten

"Warum ist euer neues Album nicht noch tanzbarer geworden?", fragte ironisch der Mitarbeiter einer mittlerweile längst eingestellten Musikzeitschrift. Und Bono antwortete mit der gleichen Ironie: "Weil unser Drummer nicht noch tanzbarere Beats spielen konnte. Er hat's versucht, aber es ging einfach nicht."

Der Grund für soviel vermeintlich lustigen Sarkasmus hieß "Achtung Baby" und machte schon mit dem Titel klar, dass man sehr genau hinhören sollte, um zu verstehen, was da passiert. In den 80er Jahren wurden Musik und Gestus von U2 gerne mit Adjektiven wie "bodenständig" oder "erdig" versehen. Das sollte wohl andeuten, dass inmitten einer durchaus von seinerzeit moderner Elektronik geprägten Popmusik vier wackere Iren tapfer dagegenhielten. Dabei hatten ihre Songs streng genommen nicht viel zu tun mit dem, was damals als klassisch rockend galt. Sie waren nicht vom Blues beeinflusst (zumindest hörte man das nicht), sie standen selten breitbeinig auf der Bühne (höchstens mal im Video), und ihren Frisuren widmeten sie augenscheinlich nicht besonders viel Aufmerksamkeit.

All das änderte sich nicht über Nacht, sondern schleichend - und zwar schon drei Jahre vor Veröffentlichung ihres erwähnten "Berliner Albums". Bereits auf "Rattle & Hum", einem so kruden wie genialen Sammelsurium von Live- und Studioaufnahmen, das als Soundtrack zum gleichnamigen Film gedacht war, wurde es tanzbar ("God Part II"), war ein alter Blueser zu hören (B.B. King auf "When Love Comes To Town"), klangen U2 noch wütender als gewohnt (etwa auf der Live-Version von "Bullet The Blue Sky").

Mehr ging nicht, denn dem Triumph folgte die Krise. Statt die Band aufzulösen, gingen die eher unfreiwilligen Stadionrocker in sich - und ins Studio. Das stand eben in Berlin, und wenn Musiker aus Übersee oder von der Insel in Berlin aufnehmen, klingt das Ergebnis grundsätzlich urban statt "bodenständig" oder gar "erdig". Wie zuvor die Herren Bowie, Pop und Reed brachten U2 dunkel schillernde Geschichten mit, als sie sich wieder an die Öffentlichkeit wagten. Nichts war wie vorher. Tatsächlich zeigten sich neue Stücke wie "Mysterious Ways" oder die erste Single "The Fly" beeinflusst vom Anfang der 90er angesagten Rave-Sound aus Manchester. Die einst flächige New-Wave-Gitarre von The Edge klang mehr nach Funk und scharfen Riffs als je zuvor. Und aus Bono, dem Messias seiner Fans (und der Feuilletonisten), war die Karikatur "Macphisto" geworden, ein zynisch grinsender Verweigerer in schwarzem Leder und mit riesiger Sonnenbrille.

Nicht nur eingangs zitierter Schreiber zeigte sich irritiert. Wir Fans hatten durchaus zu knabbern an dem neuen Werk. Doch wie das mit dem Knabbern so ist - hat man einmal damit angefangen, kann man nicht mehr aufhören. Dem ersten Schock folgte Akzeptanz, schließlich Begeisterung. Und in den folgenden Jahren pendelten sich U2 stilsicher ein, irgendwo im Niemandsland zwischen gestrigen Hymnen und neu entdecktem Pioniergeist. Allein: So richtig spannend wurde es nie wieder. Manchmal erscheint eine Platte eben genau zum richtigen Zeitpunkt. Und noch seltener merkt man erst später, dass der Zeitpunkt richtig war.

Wieviel Anteil Schlagzeuger Larry Mullen jr. tatsächlich daran hatte, ist übrigens nicht überliefert. Macphisto wollte es nicht verraten. Und Bono hat längst wieder genug damit zu tun, die Welt zu retten. "It's no secret that a liar won't believe anyone else."