Sonntag, 6. Dezember 2020

Meine zweite Weihnachtsgeschichte

Diese Geschichte spielt gar nicht in der Adventszeit, aber immerhin in einer Kirche und zwar im Sommer des Jahres 1986. Ich war 13 Jahre alt, und kurze Zeit darauf verließen meine Eltern und ich jene Kleinstadt am Main. Was im Übrigen nichts mit den geschilderten Ereignissen zu tun hatte, sondern damit, dass mein Vater die Frührente antrat und es ihn und seine Gattin in deren Heimat zog. In diesem Sommer jedenfalls war über ziemlich viel Gras gewachsen, glücklicherweise auch darüber, wie ich als gesprächiger Hirte das Krippenspiel ruiniert hatte. Einzig meine Mutter erinnerte sich noch Jahrzehnte später daran, aber das gehört wohl zu ihrem Job. Nun begab es sich also, dass für mich der zweite Schritt anstand, um ein vollwertiges Gemeindeglied (so nannten die das wirklich, da fehlt leider keine Silbe) zu werden. Zwar hatte ich das Krippenspiel der einen evangelischen Kirchengemeinde veredelt, aber nur, weil ich dort getauft worden war und meine Reli-Lehrerin die Inszenierung übernommen hatte. Denn eigentlich gehörte ich wegen eines Umzugs inzwischen zur anderen evangelischen Gemeinde - und dort sollte ich auch konfirmiert werden.

Für mich die Gelegenheit, meiner eigenen Legende ein erweitertes Publikum zu verschaffen. Und zwar folgendermaßen: Nachdem ich den offenbar traditionellen und obligatorischen Termin beim Fotografen hinter mich gebracht hatte, stand der Konfirmationsgottesdienst auf dem Programm. Die Fotos werdet ihr übrigens niemals sehen, denn ich versuche darauf augenscheinlich, "cool" zu gucken, was für einen pickeligen 13-Jährigen nicht nur kaum möglich, sondern zudem eine sehr dumme Idee ist. In meinem Kopf grinste ich wie Billy Idol, tatsächlich aber einfach nur schief. Zur Feier jedenfalls trugen wir, um das Ende des viel zu langen Konfirmandenunterrichts zu zelebrieren, alberne Klamotten und hatten genau zwei Gedanken in unseren pubertierenden Hirnen: 1. Wann gibt's die Kohle? 2. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Gut, Punkt zwei variierte bei uns zehn frommen Mädlein und Knaben. Und am Wortlaut erkennt ihr: Das ist eines der zehn Gebote. Eins davon musste sich jeder merken und nach Genuss von Messwein und Oblate vor versammelter Gemeinde aufsagen.

Die Reihenfolge war klar festgelegt, weil ein Mädchen in unserer Gruppe eine Lernbehinderung hatte und sich nur das erste Gebot merken konnte. Ich wusste also, solange ich Nummer acht drauf habe, ist alles gut. Gar nichts war gut. Etwa anderthalb Minuten vor Beginn der Show fiel der Guten nämlich auf, dass sie sich nicht das erste, sondern das zweite Gebot merken konnte. Jetzt wäre es ja pfiffig gewesen, sie einfach mit jemand anderem tauschen zu lassen. Aber stattdessen verschoben sich die aufzusagenden Gebote jeweils um eins. Statt der Sache mit dem Lügen war meine Aufgabe also nun die mit dem Haus. Ihr ahnt, was passierte. Als ich an der Reihe war, sagte ich laut und deutlich in die weihevolle Stille: "Du sollst nicht falsch Zeugnis... ach, Scheiße!" Dass ich danach perfekt das neunte Gebot aufsagte, ging ein wenig im anschließenden Tumult unter. Meiner erneut sehr dunkelrot angelaufenen Mutter gelang es übrigens, mir quer durch den Raum mit einem einzigen Blick zu signalisieren, dass sie gedachte, das fünfte Gebot ausnahmsweise zu ignorieren. Es war ein Fest. Spontan fällt mir gerade eine weitere, eine echte Weihnachtsgeschichte ein, aber diese soll ein anderes Mal erzählt werden.