Mittwoch, 6. Dezember 2023

Ein Held

"Helden werden nicht geboren. Man entscheidet sich, ein Held zu sein." Für Sätze wie diese liebte Alex seine Comics. Sie gaben ihm Kraft. Lenkten ihn ab von der Realität.

Die war kalt und grau, als er durch das verschneite Bitterfeld stapfte. Er knüllte das zerfledderte Heft in die Tasche seines Parkas und zog die Kapuze über. Leichte Flocken wehten in der Dunkelheit vorbei. Dahinter stand eine Gestalt, noch größer und breiter als er selbst. "Hoho, Kamerad", grüßte Otze. Alex nickte zurück. Gemeinsam marschierten sie durch die Stadt, hinterließen tiefe Abdrücke im schmutzigen Weiß. Auf zum Flüchtlingsheim.

Juri wusste nichts von den beiden wuchtigen Kerlen, die sich ihm näherten. Er wusste nichts von Hass und Wut, aber Angst und Sorgen kannte er. Seine Mutter, die beiden Schwestern und er waren vor dem Krieg geflohen. Der erste Nikolaustag in der Fremde. Kälte innen und außen. Eigentlich sollte er längst wieder im Haus sein. Es war schon dunkel. Plötzlich fielen zwei riesige Schatten ins Licht der Straßenlaterne.

„Verpiss dich“, grunzte Otze. Sein Blick war voller Verachtung, in der Faust hatte er den Baseballschläger. Geschüttelt vor Zorn starrte er den kleinen Jungen an. Dann griff er die Holzkeule fester und hob den Arm.

Als er seine ersten Comics gelesen hatte, war er ein kleiner Junge. Daran dachte Alex, als er Juri sah. Auch er hatte gern im Schnee gespielt. Auch er war oft allein. Er hörte Otze grunzen. Den Arm heben. Dann krachte es, ein schmerzerfüllter Schrei, ein Sturz.

Als Juri davonlief und Otze blutend am Boden lag, fiel der Comic aus Alex' Jackentasche. Der Schnee durchnässte das Papier, der Wind blätterte die Seiten auf. „Helden werden nicht geboren“, stand da. Alex atmete die kalte Winterluft ein und rieb seine schmerzende Faust. "Man entscheidet sich, ein Held zu sein."

Sonntag, 3. Dezember 2023

Im Moment

"Ich habe nicht viel Zeit. Haben wir nie."

"Das ist schade. Es war schön mit dir."

"Und darum wirst du mich auch nie vergessen."

"Aber wie ist dein Name?"

"Ich habe keinen Namen."

"Und was bist du?"

"Nur ein Augenblick."

Freitag, 22. September 2023

Endzeit

Die Apokalypse dauerte nun schon fünf Tage. Das war einerseits eine lange Zeit, wenn man wie Jake und Billy ums Überleben kämpfte. Andererseits war es erstaunlich, dass die Welt sich in diesen wenigen Tagen in eine Ödnis aus Trümmern und Müll verwandelt hatte.

Inzwischen kannten sie die Regeln: Die Infektion wurde durch Bisse übertragen. Infizierte verloren komplett die Kontrolle über sich, schlugen, traten und schnappten nach allem, was sie sahen. Auf diese Weise hatte das Virus sehr schnell den größten Teil der Weltbevölkerung erreicht. So zumindest wurde es bis vorgestern erklärt, seitdem gab es keine Nachrichten mehr.

Jake und Billy waren Freunde seit ihrer Kindheit. Beim Angeln waren sie von Infizierten überfallen worden und seitdem auf der Flucht. Zwei untrainierte Mittvierziger mit Angelausrüstung. Im Prinzip ein Snack für jeden Infizierten.

Kein Wunder, dass gerade gleich drei von ihnen auf sie zu rannten. Gierige Blicke voller Wut. Blutverschmierte Gesichter. „Aaaaargh“, schrieen sie, getrieben von Hunger und Zorn. "Pass auf", rief Jake. Billy duckte sich unbeholfen, was dazu führte, dass der erste Angreifer über einen Berg Schrott stolperte und sich selbst auf eine abgebrochene Metallstange spießte. "Wow", sagte Billy. "Das war knapp."

Die beiden anderen Infizierten packten Jake an der Jacke und zogen ihn zu Boden. Wieder dieses wütende "Aaaaargh". "Hilfe", brüllte er, während Billy ihm entgegen taumelte. Er hob ein Brett auf und schlug damit auf einen ihrer Gegner ein. Dieser - ein junger Mann, dem das halbe Gesicht fehlte - verlor das Gleichgewicht und rutschte nach hinten auf ein Autowrack zu. Krachend durchschlug sein Kopf die Windschutzscheibe.

Jake gelang es fast, sich loszureißen, als der verbliebene Infizierte ihm die Zähne in den Hals schlug. Blut spritzte, Jake schrie vor Überraschung und Schmerz. Billy warf das Brett auf den geifernden Angreifer und schnitt ihm dabei die Kehle auf. Dessen "Aaaargh" verwandelte sich in einen gurgelnden Laut, als er in die Knie ging.

"Oh nein", rief Billy und nahm Jake in den Arm. "Bleib bei mir, Kumpel." "Keine Sorge", murmelte Jake. "Selbst am Ende der Welt warst du immer mein bester Fraaaaargh!"

Montag, 18. September 2023

Zeit, Alter.

In den 70ern gab es Fernsehserien, die in den 50ern spielten und diese als komplett andere Welt zeigten. In den 80er Jahren gab es dasselbe mit den 60ern, in den 90ern mit den 70ern. Heißt: 20 Jahre machten seinerzeit einen deutlichen Unterschied - in Technik, Mode, Gesellschaft.

Wenn man sich heute Fotos oder Videos aus den 70ern bis 90ern anschaut, weiß man genau, aus welchem Jahrzehnt sie stammen. Jede Ära hatte ihre ganz speziellen Merkmale. Schlaghosen und Schulterpolster, karierte Hemden und karierte Tapeten - ihr wisst schon.

Wer an die 50er, 60er, 70er, 80er und 90er denkt, hat sofort ein Klischeebild im Kopf. Anzüge, Hippies, Punks, Stirnbänder, Techno. Bestimmte Dinge stehen für bestimmte Jahrzehnte.

Jetzt kommt's: Mit Beginn dieses Jahrtausends hat sich das geändert. Man erkennt in der Rückschau faktisch keinen Unterschied zwischen Aufnahmen aus dem Jahr 2002 und dem Jahr 2022. Sogar die Musik hat sich kaum verändert. Allenfalls technisch hat sich was getan, in erster Linie das Internet.

Woran liegt das? Wer erklärt es mir?

Donnerstag, 31. August 2023

Im Biergarten

Die Kriegerin blieb stehen. Alle ihre Sinne konzentrierten sich darauf, ein Ziel zu finden. Sie musste überleben. Und sie musste ihr Volk am Leben halten, dazu war sie geboren und ausgebildet worden. Starr saß sie auf ihrem Beobachtungsposten und suchte aufmerksam nach dem begehrten Ziel: Nahrung. Etwas zu essen, das das Überleben sicherte.

Sie spürte, dass es kühler geworden war. Kälte bedeutete Tod. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Plötzlich nahm sie etwas wahr, einen Geruch, der rasch vom leichten Wind davongetragen wurde. Aber die Kriegerin war erfahren in der Suche und im Kampf. Sie erhob sich und folgte der Spur.

Sie wusste, dass der Ruf ihres Volkes ihr vorauseilte. Kein Grund mehr für Vorsicht. Im Gegenteil: Laut erklang ihr Kampfruf in der kühlen Luft. Fast ein Aufschrei, allen Feinden wohlbekannt. Und allen Opfern.

Wie erwartet wurde die Nahrung bewacht. Ihr Gegner war deutlich größer als sie, aber das schreckte die Kriegerin nicht ab. Der Riese war unbeholfen und erstaunlich ängstlich. Seine Bewegungen waren ungelenk und langsam, nicht vergleichbar mit den eleganten, fließenden Bewegungen, in denen sie ihn attackierte. Sie hatte viele Kämpfe gewonnen. Und sie kannte keine Furcht.

Mehrmals gelang es ihr, den Feind mit gezielten Angriffen einzuschüchtern. Sie musste nicht einmal die Waffe ziehen. Ihr Kampfschrei und ihr bloßer Anblick genügten, um den Riesen einzuschüchtern. Schließlich erreichte sie die Nahrung, sie biss ein großes Stück heraus, um ihrem Volk zu beweisen, dass dort noch mehr zu finden war. Ihr ungeschickter Gegner hatte keine Chance, aber umso mehr Angst. Er brüllte hilflos und verzweifelt.

"Verdammte Wespen! Hau ab, du Mistvieh! Verschwinde!"

Montag, 28. August 2023

Ohne Haare

Meine Brüder haben ja die gleiche Frisur wie ich. In zwei Fällen tragen Affen die Schuld daran. Im Alter von drei Jahren hat mir ein Äffchen, dem ich im Zoo zu nahe kam, zwei Büschel Haare ausgerissen. Davon gibt es sogar Filmaufnahmen, die heute viral gehen würden.

Und mein Bruder ist als Teenager mal mit dieser Bimmelbahn im Serengeti-Park gefahren. Die ist von einem tunnelartigen Gitter umgeben, man sitzt als Passagier quasi im Käfig. Und ein Affe hat von oben durch die Maschen seinen... King Kong baumeln lassen. Mein Bruder hatte keine Chance und bewegte sich mit der Zugfahrt direkt darauf zu. Der Affenschnippi wurde ihm quälend langsam einmal komplett von Stirn bis Hinterkopf über den Schädel gezogen.

Kein Wunder also, dass sich unser Haupthaar später verabschiedete.

Ich dachte, das solltet ihr wissen.

Donnerstag, 24. August 2023

Unterm Bett

Ihr habt Angst vor uns. Das verstehen wir. Für eure Augen sind wir hässlich. Deswegen verstecken wir uns in der Dunkelheit. Und sind doch ganz nah bei euch.

Irgendwann glaubt ihr, dass es uns gar nicht gibt. Das ist in Ordnung. Wir bleiben trotzdem da. Und passen auf euch auf. Nacht für Nacht.

Wir sind die Monster unter eurem Bett, im Schrank, hinter der Tür. In euren Köpfen. Wir gehen nicht weg. Und ihr habt keinen Grund, Angst vor uns zu haben.

Donnerstag, 10. August 2023

Auf der Wache

Manchmal ist mein Leben wie eine Folge "Pastewka". In der Nacht zu Sonntag ist mir ein Waschbär unters Auto gelaufen. Ich habe gebremst, aber er hatte keine Chance, dazu war der Abstand wirklich zu kurz. Mir hat das natürlich furchtbar leidgetan (ausgerechnet ein Waschbär). Als ich nachgeschaut habe, war das Tier nirgends zu sehen.

Gestern (also drei Tage später) fuhr ich zu einem Termin nach Gladenbach und vorher tanken. Als ich vom Bezahlen kam, sah ich, dass der Kühler meines Autos eingedrückt ist und das vordere Kfz-Kennzeichen fehlt. Das ist mir tatsächlich mehrere Tage lang nicht aufgefallen (erklärt aber, weshalb die Kinder, die am Montag an unserem Zeitungsprojekt teilgenommen haben, mich so anstarrten, als ich an ihnen vorbeifuhr - vermutlich erschreckten sie am meisten die grauen Haare in der Delle).

Vor meinem Meeting rief ich die Polizei an, um zu erfahren, was jetzt zu tun ist. Theoretisch könnte ja jemand mit meinem Nummernschild durch die Gegend fahren und Banken ausrauben. Der Beamte war freundlich und auskunftsfreudig. Ich solle einfach irgendwann vorstellig werden, die Wache sei 24 Stunden besetzt. Man werde speziell nach Tierhaaren schauen, um meine Story zu bestätigen.

Also fuhr ich nach dem Termin zur Polizeistation, parkte trotz geöffneter Schranke davor und las mir erstmal die ungezählten Hinweise an der Pforte durch. Auf einem Schild stand, man solle klingeln. Ich klingelte. Auf einem weiteren Schild stand, man solle auf keinen Fall klingeln. Ich erstarrte. Ein drittes Schild wies an, man solle die Zentrale anrufen. Gut, dass ich ein Telefon dabeihatte. Was machen Bürger, die keines besitzen? Laut rufen?

Ein Polizist meldete sich, hörte sich die Vorgeschichte an und fragte dann: "Und was soll ich jetzt machen?" "Naja", antwortete ich, "vermutlich wäre es zur Aufnahme des Unfalls sinnvoll, wenn jemand von Ihnen rauskommt oder mich jemand reinlässt." "Ich öffne die Tür." Dem Summen und dem automatischen Öffnen der inneren Tür nach tat er das tatsächlich. Allerdings nur diese. Die äußere blieb verschlossen.

Ein junger Mann, der bereits etwas weiter vorgedrungen war und im Inneren wartete, öffnete mir (vermutlich verbotenerweise) die äußere Tür. Ich betrat das Allerheiligste und fragte ihn, ob er wisse, wie es nun weitergeht. Wusste er nicht. Zaghaft klopfte ich an die Glastür der Wache. Keine Reaktion. Also wählte ich noch einmal die Nummer der Zentrale und erklärte dem Beamten von vorhin, dass ein anderer Bürger mich reingelassen habe und ich gerne wüsste, was ich nun tun solle. "Ich sehe, dass Sie im Gebäude sind", sagte er. "Und wir sind hier auf der Arbeit, nicht auf der Flucht."

Eine halbe Stunde später kam ein Polizist von der anderen Seite des Gebäudes in den Wartebereich und holte den jungen Mann ab. Mich fragte er, wohin ich denn wolle. Ich berichtete, dass ein Kollege von ihm mich darüber informiert habe, nicht auf der Flucht zu sein, und ich nun offenbar warten solle. "Klopfen Sie doch mal an die Scheibe", riet er, aber das erschien mir inzwischen zu riskant. Offenbar war sein Kollege nicht nur nicht auf der Flucht und wusste nicht, wie die äußere Tür aufgeht, sondern hatte auch schlechte Laune. Und ich keine Lust, die Nacht in U-Haft zu verbringen.

Einige Minuten später tauchte eine sehr nette und freundliche Beamtin auf und sagte, ihr Kollege habe sie bereits informiert. Das Problem sei natürlich, dass der Unfall in Köln passiert sei und man daher zunächst mal die Zuständigkeiten klären müsse. "Da kann ich helfen", beruhigte ich sie. "Der Unfall ist nämlich gar nicht in Köln passiert, ich habe das auch nie gesagt und weiß nicht mal, welches Wort offenbar falsch verstanden wurde."

Um es kurz zu machen: Sie nahm den Unfall auf (was nur für die Versicherung und die Zulassungsstelle relevant ist), mein aktuelles Kennzeichen ist gesperrt (was wichtig ist, falls mich eine Streife anhält). Und ich vereinbare nun online einen Termin bei der Zulassungsstelle und suche mir ein neues Wunschkennzeichen aus. Vielleicht MR-WB in Andenken an den Waschbären. Oder irgendwas mit Köln.

Freitag, 14. Juli 2023

Auf dem Parkplatz

Diese Woche Termin beim Facharzt in Marburg. Ich fahre auf einen von zwei freien Parkplätzen und parke exakt parallel zu den anderen Fahrzeugen. Der Fahrer eines BMW bleibt hinter mir stehen, lässt die Scheibe runter und brüllt etwas Unverständliches. Ich vermute, ihm ist der verbliebene Platz zu eng, was genau so unverständlich ist. Wütend starrt er meine Heckscheibe an.

Ich ignoriere ihn und steige aus. Er verstummt, lässt die Scheibe hoch und fährt weiter. Als er später in der Patientenschlange hinter mir steht, sagt er kein Wort.

Manchmal sitzt in einem kleinen roten Auto voller Aufkleber keine zierliche Fahranfängerin oder ein schüchterner Student.

Freitag, 30. Juni 2023

Auf dem Spielplatz

"Mit wem spricht Benny denn da?", fragte Karl, als wir den Jungs auf dem Spielplatz zuschauten. Mein Sohn saß etwas abseits, offensichtlich allein, plapperte aber vor sich hin. Er sah zufrieden aus. "Keine Ahnung", antwortete ich. "Ich glaube, er hat einen imaginären Freund."

"Macht dir das keine Sorgen?", fragte Karl. Benny lachte und beschrieb etwas mit den Händen. "Überhaupt nicht", antwortete ich. "Ich hatte früher viele imaginäre Freunde. Sie haben mich beschützt und getröstet, wenn ich einsam war."

"Ob sein Freund irgendwann verschwindet?", fragte Karl. "Vermutlich", antwortete ich und blickte auf die leere Stelle neben mir auf der Bank. "Aber wenn nicht, ist auch das in Ordnung."

Donnerstag, 22. Juni 2023

Als ich den Boss traf

Der Boss in Düsseldorf. (c) Markus Engelhardt

Da mussten wir beide erst grau werden, bis wir uns endlich mal treffen, Bruce Springsteen und ich.

Ein drei Stunden langer Ritt durch 50 Jahre auf der Bühne, die dem Mann ein Zuhause ist. Song folgt auf Song, Hit auf Lieblingslied, ohne Pause, nur getrennt durch das klassische "One, two, three, four". Den Dialog mit dem Publikum gibt’s in intimeren, ruhigeren Passagen, wenn Springsteen allein im Licht steht und an "On Broadway" erinnert.

Zwischendurch lotet er die Grenzen des Stadionrock aus. Er darf das, immerhin hat er ihn erfunden. Es gibt Reminiszenzen an Blues und Gospel, an Jazz und Soul. "Nightshift" überrascht in der makellosen Setlist, hätte selbst Lionel Richie zu Tränen gerührt und zeigt, dass Springsteen das Coveralbum besser mit der E Street Band eingespielt hätte.

Die Gang ist vollzählig, nur Patti fehlt (Soozie Tyrell übernimmt ihre Parts), zudem sind die E Street Horns, der komplette Backing-Chor sowie Curtis King und Anthony Almonte dabei. Jeder bekommt seinen Moment. Max Weinberg ist Rückgrat und Uhrwerk, holt aus seinem winzigen Kit, wozu andere eine Schlagzeug-Burg brauchen. Der dünne Garry Talent gibt den Ruhepol der rollenden Rockmaschine, die über Jahrzehnte zur perfekten Einheit geschmiedet wurde.

Roy Bittan und Charles Giordano setzen die Eckpunkte, improvisieren unauffällig, sind zwei stille Profis im Hintergrund. Jake Clemons senkt das Durchschnittsalter auf der Bühne und versucht gar nicht erst, seinen Onkel zu imitieren, weil er weiß, dass der Big Man einmalig war. Stattdessen punktet er mit eigenen Akzenten und ist längst ein etablierter Teil der Truppe. Wenn du mit Springsteen spielst, gehörst du zur E Street Band, zur Familie.

Nils Lofgren ist anderthalb Meter pure Musik, ordnet sich als Sidekick dem großen Ganzen unter und zeigt mit einem mehrminütigen Solo quasi sämtlichen Gitarristen, wie man sowas macht. Und immer an der Seite des Meisters natürlich der unverwüstliche Mann in Schwarz: Auch am Jüngsten Tag wird Little Steven neben seinem Freund stehen. Bei 30 Grad Außentemperatur trägt Mr. Van Zandt zunächst einen Federhut, um ihn vor dem Publikum zu ziehen, und das unvermeidliche Piratenkopftuch. Lässig schießt er seine Riffs aus der Hüfte, bleibt der Liebling der Fans und bekommt immer wieder Szenenapplaus.

Und Springsteen selbst? Der ist stimmlich in Topform, physisch in beneidenswert guter Verfassung. Dirigiert das kleinste Orchester der Welt, greift erfreulich oft zur Mundharmonika und spielt erstaunlich oft Soli. Aber vor allem strahlt dieser 73 Jahre alte Mann eine Lebensfreude aus, von der wir alle lernen können. Er lebt den Moment, liebt sein Publikum, mit dem er auf Tuchfühlung geht, ist ehrlich dankbar für die Energie, die es ihm zurückgibt. Er ist ein Erzähler, ein Entertainer, sorgt für Gänsehaut und Freudentränen. Spricht viel von Alter und Tod und feiert zu jeder Sekunde das Leben.

Sie nennen ihn den Boss. Und das völlig zurecht.


Freitag, 2. Juni 2023

Im Kleiderschrank

Irgendwie faszinieren mich gerade diese Videokanäle, in denen Leute zeigen, was sie warum an diesem Tag tragen. (Nicht Wassermelonen, sondern Klamotten.) Bei mir würde das etwa so ablaufen:

"Hallo, Freunde, schön, dass ihr wieder mit dabei seid. Heute ist es recht warm, also tragen wir unsere schwarze Jeans, weil die nicht in der Wäsche ist und praktischerweise hier überm Stuhl hängt. Dazu ein Band-Shirt - ich empfehle das, das ganz oben auf dem Stapel im Kleiderschrank liegt, in diesem Fall zeigt es das Logo von Rise Against. Darüber - es ist ja Sommer - ein schwarzes Hemd mit kurzen Ärmeln, weil mir komplett am Arsch vorbeigeht, dass viele das für uncool halten. Heute Abend geht's in den Biergarten, also legen wir uns den schwarzen Hoodie ins Auto. Sicherheit geht vor, liebe Freunde. Als Uhr wählen wir heute wie an jedem verdammten Tag die im iPhone, das kommt einfach lässig in die Hosentasche. Wir tragen die gleichen Schuhe wie immer, wenn es nicht regnet, natürlich auch in Schwarz. Und als Duft - es wird einige überraschen, dass ich mir darüber tatsächlich ab und zu Gedanken mache - nehmen wir heute "bruno banani Made for Men", das riecht nach Frühling oder Sommer. Keine Sonnenbrille, denn dann können wir nicht Auto fahren, weil die eigentliche Brille nicht auch noch Platz auf der Nase findet. Und dann ist es auch schon fertig, unser Sommer-Outfit. Ich wünsche euch einen wunderschönen Tag, bis morgen, ihr Lieben."

Sonntag, 9. April 2023

In der Stille

Als er eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich zwar nicht in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Aber nichts war, wie es sein sollte. Also war alles wie immer.

Sein erster Blick aus dem Fenster galt der Absperrung. In der Nacht hatten sich fünf weitere Moaner im Dickicht der Holzspieße verfangen, die er in den Boden gerammt hatte. Er ging nach unten, erlöste sie mit einer weiteren Stange und zog sie auf den Aschehaufen. Das Funkgerät schwieg schon seit neun Monaten. Die Seuche wütete seit 25. Die Routine half ihm, seinen restlichen Verstand zu retten. Und wenn er die stöhnenden Besucher nicht regelmäßig entfernte, verlor die Absperrung an Wirkung.

Er blickte nach oben, in den fahlen Himmel, und kniff die Augen zusammen. Andererseits, dachte er, tut etwas Abwechslung ganz gut. Er ließ den Spieß fallen und kletterte über den Zaun. Einige Meilen die Straße runter sah er eine Herde, vielleicht 50 Moaner, die langsam und gierig in seine Richtung taumelten. Er lächelte, als er ihnen entgegenging. Wurde auch Zeit, dachte er.

Hinter ihm ertönte nach Monaten der Stille das Funkgerät. Aber das konnte er nicht mehr hören.

Dienstag, 4. April 2023

Am Abgrund

Wie war euer Tag? Meiner war… interessant.

Nachdem ein erneuter Besuch bei der Augenärztin eher durchwachsen verlaufen war, machte ich mich auf zu einem Fototermin in Dautphetal. Ich war relativ früh dran, also gönnte ich meinem Autochen eine Mahlzeit und eine Wäsche. Unterwegs bekam ich die Nachricht, dass wir ein Bild des Rimbergturms benötigten, daher schob ich die - laut Navi - 15 Minuten Sidequest noch rasch dazwischen.

Besagtes Gerät schickte mich den Rimberg hinauf, und mich stimmte nachdenklich, dass der Weg eher ein matschiger Trampelpfad durch dichtes Geäst war, von dem Teile auf der Fahrbahn lagen. Noch nachdenklicher stimmte mich der steile Abhang zu meiner Rechten. Irgendwann passierte es: Mein Wagen rutschte, brach nach rechts aus und auf den Hang zu. Ich lenkte gegen und sämtliche Reifen tief in den Schlamm. Schräg am Berg, links eine Wand, rechts der Tod. Nichts ging mehr.

Was tun? Ich rief zwei, drei meiner Dautphetaler Kontakte an. Wozu sind die alle in der Feuerwehr, fahren Trecker oder Jeep und kennen die Gegend? Hilfe versprach - so ungewöhnlich das klingt - der Bürgermeister. Der Mann ist ehemaliger Berufssoldat und Polizist und immerhin Herr über den Bauhof.

Er stellte tatsächlich zunächst den Kontakt zur Rettungsleitstelle her. Ein freundlicher und kompetenter Mitarbeiter griff mit Genehmigung auf mein Diensthandy zu und verschaffte sich per Kamera einen Überblick. Dann die zweite schlechte Nachricht des Tages: Ich musste aussteigen. Sofort.

Er bleibe am Telefon, tröstete er mich. Ich dachte daran, nicht die App "Seil zuwerfen" installiert zu haben. Und an meine Höhenangst. Als ich neben dem Auto stand, zitterte ich vor Adrenalin und schickte dem Gemeindeoberhaupt meinen Standort. Kurz darauf rollte der Jeep (wzbw) auf mich zu.

Der Bürgermeister schlug vor, sich selbst mal ans Steuer meines Kleinwagens zu setzen und sein Glück zu versuchen. Mit Vollgas und Geschick bekam er das Auto frei. Als kleine Karawane der Tapferen machten wir uns auf Richtung Tal…

… bis ich gar nicht mehr tapfer war. Ständiges Rutschen am steilen Abhang - es ging einfach nicht. Also fuhr ich im Wagen des Rathauschefs mit, alle 300 Meter stieg er aus und schloss mit meinem auf, bis wir irgendwann unten waren.

Fazit: Doornkaat, Dusche, Druckverband… Naja, eher ein kaputter Auspuff, eine sinnlose Autowäsche und wieder ein Dautphetaler, mit dem ich mich duze.

Wasntach. Durst, Pipi, Arm.

Montag, 27. März 2023

In der Warteschleife

Heute habe ich vergeblich versucht, einen Termin beim Facharzt auszumachen. Gescheitert ist das (bislang) nicht etwa daran, dass kein Termin zu bekommen war.

Nein, ich habe nach fast vier (!) Stunden in der Warteschleife aufgegeben und versuche es nun per Mail.

Vier Stunden. Das ist eine lange Zeit. Nach 15 Minuten habe ich den Lautsprecher des iPhones eingeschaltet und gearbeitet, Post sortiert, den Kühlschrank gefüllt, war auf dem Klo, musste das iPhone aufladen...

Vier Stunden lang hörte ich eine etwa 20-sekündige Melodie des Wahnsinns, die mich den Rest meines Lebens verfolgen wird. Vermutlich bin ich jetzt ein Schläfer. Sobald diese Sequenz ertönt, garantiere ich für nichts. Ist sowas nicht Folter?

Vier Stunden. Und alle paar Minuten: "Alle Abfrageplätze sind belegt. Sie befinden sich derzeit auf Position... eins... der Warteschlange. Wir bitten Sie um Geduld."

Am Anfang der vier Stunden war ich übrigens auf Position vier.

Vier Stunden meines Lebens. Unfassbar.

Donnerstag, 2. März 2023

Im Flur

Gemütlich saß er im Wohnzimmer, die Decke auf den Knien, den Blick auf den Fernseher gerichtet. Plötzlich tauchten im Türspalt zum Flur zwei grüne Augen auf, leuchtende Punkte in der Dunkelheit. "Spot", sagte er, "du sollst dich nicht immer so anschleichen. Komm schon her, du Kuschelmonster." Als er hörte, wie sein Kater direkt neben ihm miaute, jagte ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Und als sich die Tür weiter öffnete, ergriff die Kälte sein Herz und ließ ihn erstarren.