Mittwoch, 6. Dezember 2023

Ein Held

"Helden werden nicht geboren. Man entscheidet sich, ein Held zu sein." Für Sätze wie diese liebte Alex seine Comics. Sie gaben ihm Kraft. Lenkten ihn ab von der Realität.

Die war kalt und grau, als er durch das verschneite Bitterfeld stapfte. Er knüllte das zerfledderte Heft in die Tasche seines Parkas und zog die Kapuze über. Leichte Flocken wehten in der Dunkelheit vorbei. Dahinter stand eine Gestalt, noch größer und breiter als er selbst. "Hoho, Kamerad", grüßte Otze. Alex nickte zurück. Gemeinsam marschierten sie durch die Stadt, hinterließen tiefe Abdrücke im schmutzigen Weiß. Auf zum Flüchtlingsheim.

Juri wusste nichts von den beiden wuchtigen Kerlen, die sich ihm näherten. Er wusste nichts von Hass und Wut, aber Angst und Sorgen kannte er. Seine Mutter, die beiden Schwestern und er waren vor dem Krieg geflohen. Der erste Nikolaustag in der Fremde. Kälte innen und außen. Eigentlich sollte er längst wieder im Haus sein. Es war schon dunkel. Plötzlich fielen zwei riesige Schatten ins Licht der Straßenlaterne.

„Verpiss dich“, grunzte Otze. Sein Blick war voller Verachtung, in der Faust hatte er den Baseballschläger. Geschüttelt vor Zorn starrte er den kleinen Jungen an. Dann griff er die Holzkeule fester und hob den Arm.

Als er seine ersten Comics gelesen hatte, war er ein kleiner Junge. Daran dachte Alex, als er Juri sah. Auch er hatte gern im Schnee gespielt. Auch er war oft allein. Er hörte Otze grunzen. Den Arm heben. Dann krachte es, ein schmerzerfüllter Schrei, ein Sturz.

Als Juri davonlief und Otze blutend am Boden lag, fiel der Comic aus Alex' Jackentasche. Der Schnee durchnässte das Papier, der Wind blätterte die Seiten auf. „Helden werden nicht geboren“, stand da. Alex atmete die kalte Winterluft ein und rieb seine schmerzende Faust. "Man entscheidet sich, ein Held zu sein."