Freitag, 31. Mai 2024

In unserer Straße (2)

Als ich von meinem heutigen dienstlichen Termin heimkehre, ist in meiner Straße der Teufel los. Inzwischen wurde eine Strecke von etwa 30 Metern komplett aufgerissen und das Loch neben dem Haus meiner Nachbarin auf vier mal vier Meter verbreitert. Sie diskutiert angeregt mit einem älteren Mann im Anzug und einem Bärtigen in leuchtend gelber Warnweste. Der Bagger und ein kleiner Laster fahren routiniert hin und her. Um das Chaos hat sich eine ansehnliche Menschenmenge versammelt. Auf den ersten Blick mache ich den Pfarrer von nebenan aus, der seine Enkelin dabei hat ("lassen Sie doch mal das Kind vor, das sieht ja gar nichts"), den dauerbekifften Biobauern aus der Parallelstraße und drei, vier Rentner, die weiter unten wohnen und hilfreiche Tipps zum Geschehen beisteuern.

Zwei Lokalpolitiker sortieren ihre Unterlagen, die Burschenschaft schleppt eilig Bierbänke herbei, die Blaskapelle spielt sich warm, eine Hüpfburg wird aufgepumpt, Hubschrauber kreisen über der Szenerie. Irgendwo bellt ein Hund. Ich fühle mich an Kishons "Blaumilchkanal" erinnert, mit einem Hauch von Loriots "Kosakenzipfel". Inzwischen ist mir klar, dass es sich nicht um eine, sondern gleich um zwei Baustellen handelt, die ein grausames Schicksal hier und heute zusammengeführt hat. Während der eine Trupp alles daran setzt, die Ursache für den Wasserschaden im Heizungskeller meiner Nachbarin zu finden oder zumindest das komplette Dorf umzugraben, verlegt das andere Team die legendären Glasfaserkabel der Deutschen Glasfaser.

"Hast du auch Glasfaser?", fragt mich Hochwürden, während er seine Enkelin tröstet, die keinen der Presslufthämmer ausprobieren darf. Ich verneine und skizziere mein Abenteuer mit dem dubiosen Anbieter, worauf der Geistliche im Ruhestand erst ankündigt, ebenfalls vom Vorvertrag zurückzutreten, und dann verspricht, bei seinem früheren Chef ein gutes Wort für mich einzulegen. Das scheint meine Nachbarin fast noch nötiger zu haben: "Ich ertrage das alles nicht", versichert sie glaubhaft. "Vor allem diesen Lärm." Offenbar kommt das Wasser nicht aus der Kanalisation, sondern aus dem Erdreich.

"Öl wäre schöner gewesen, was?", tröste ich, schiebe eine Absperrung beiseite und finde den Weg zu meinem Grundstück zwischen Geröllhaufen und Vorschlaghämmern. Mein Haus hat isolierte Scheiben, die allenfalls der "Oldie Abend" erschüttert. Die Internet-Verbindung über Kupferkabel funktioniert einwandfrei. Ich habe weder Enkel noch mag ich Blasmusik. Ausnahmsweise mal alles richtig gemacht. Allenfalls über einen Hund würde ich mit mir reden lassen.

Donnerstag, 30. Mai 2024

In unserer Straße (1)

Um 7 Uhr klingelt es an der Tür. Glücklicherweise habe ich kaum geschlafen und bin daher so müde, dass ich mich nicht aufregen kann. Da ich weiß, wer vor dem Tor steht, lasse ich mir Zeit. Als ich frisch geduscht und angezogen auf den Hof trete, gibt die Nachbarin den Bauarbeitern gerade meine Telefonnummer. Interessanterweise mit Vorwahl.

Ich hatte am Mittwoch tatsächlich gewagt, das Auto am Straßenrand zu parken, um die Einkäufe nicht 100 Meter weit schleppen zu müssen. Nun steht es offenbar im Weg, denn die Reparatur des Abwasserrohrs am vorgelagerten Nachbargebäude macht es augenscheinlich nötig, mit zwölf Mann die halbe Straße aufzubaggern.

Ehe ich umparke, frage ich einen der Arbeiter, wer die Verantwortung für das Großprojekt trägt. Leider spricht er weder Deutsch noch Englisch, versteht aber das Wort "Chef". Der sei nicht da. Schade, ich hätte ein paar Fragen und Anmerkungen.

Nachdem mich der Bagger in die Parallelstraße gelassen hat, muss ich nur noch einige Absperrungen wegschieben, um zurück ins Haus zu gelangen. Ich bin relativ sicher, dass sie bis Montag die Wasserversorgung abschalten.

Naja, wenigstens bin ich nicht der Einzige, der heute keinen Brückentag hat.

Samstag, 25. Mai 2024

In der Hosentasche

(c) Markus Engelhardt
Kennt ihr diese Multi-Tools? Mit Taschenmesser, Schraubendreher, Flaschenöffner, Fluxkompensator und Boden-Luft-Raketenwerfer? Ich hab sowas ja meist in der Hosentasche, falls spontan die Zombie-Apokalypse ausbricht oder ich mal wieder im Hinterland in unerschlossenem Gebiet feststecke.

Das hier waren die Multi-Tools meines Vaters: seine Rasierpinsel und der legendäre "kleene Dicke". Der Alte war ein wirklich begnadeter Heimwerker, aber seine Superkraft war Improvisation. (Manche sagen auch, sie sei sein Kryptonit gewesen.) Mit den Pinseln hat er tatsächlich seinen Bartwuchs getrimmt. Aber er hat mit ihnen auch unter anderem eine komplette Küche gestrichen und ein Wohnzimmer renoviert. Und der "kleene Dicke" war eigentlich immer am Mann - und dabei viel mehr als ein sehr handlicher Schraubendreher. Er diente als Stemmeisen, Stromprüfer, Lackentferner, Drahtschneider, Meinungsverstärker... Mit dem Teil hat mein Pa ganze Gartenhäuschen errichtet.

Er war wohl seiner Zeit voraus, wie alle großen Geister. Ich überlege, ein Startup auf den Weg zu bringen und die Dinger in Serie gehen zu lassen.

Mittwoch, 22. Mai 2024

In der Werkstatt

Gestern habe ich die Kfz-Werkstatt meines Vertrauens angerufen. Der Pasodoblebär hat bergauf arge Mühe und im Dunkeln nur ein Auge. Der Mitarbeiter am Telefon gab folgsam die alte Geschichte vom vollen Terminbuch zum Besten. Ich verwies darauf, den Chef zu kennen und Stammkunde zu sein. Also sagte man mir zu, mich am folgenden Nachmittag dazwischen zu schieben.

Als ich heute an der Anmeldung von dieser  Vereinbarung berichte, weiß der Kollege von nichts. Der Inhaber wird in unmittelbarer Nähe von einem anderen Kunden besprochen, der ob seines hohen Alters ohrenscheinlich fast taub ist und daher nicht redet, sondern brüllt. Das vereinfacht die Kommunikation mit dem ohnehin überforderten Mitarbeiter nicht gerade.

Immerhin sucht er im System nach meinen Daten. "XX-ME 1701", antworte ich wahrheitsgemäß auf die Frage nach dem Kennzeichen meines Kleinwagens. Er findet keinen Eintrag und sucht daher nach meinem Namen, den ich insgesamt dreimal buchstabiere. Oh, da bin ich ja.

Ich skizziere den Grund meines Besuchs. Ebenfalls dreimal. Er notiert alles, druckt es aus und lässt mich unterschreiben. Dann hängt er einen kleinen Plastikstreifen an den Autoschlüssel und kritzelt "LDK-WR 8759" darauf. Ich empfehle, vielleicht besser das Kennzeichnen meines Autos an den zugehörigen Schlüssel zu hängen statt eines anderen. Er streicht das falsche Kennzeichen durch und schreibt ein anderes darauf, das er mir stolz zeigt: "XX-ME 7101".

"Wir nähern uns an", lobe ich. Langsam erkenne ich ein System: Alles muss dreimal gemacht werden. Der Mitarbeiter unterbricht den lautstarken Redefluss des Seniors und verweist darauf, dass viel zu tun sei. Sein Chef nutzt die Gelegentlich zur Flucht in die Werkstatt und nimmt meinen Autoschlüssel mit.

"Lassen Sie den Wagen da?", fragt mich sein Angestellter. "Ja. Und ich bleibe ebenfalls hier", lasse ich ihn wissen. "Ich hatte 45 Minuten Anfahrt, die Strecke laufe ich nicht zurück." "Ach, sind Sie gar nicht aus Wetzlar?" Meine überraschte Pause nutzen zwei weitere Kunden, um ebenfalls ihr Glück zu versuchen. Beide haben Termine und daher gute Karten. Plötzlich fährt mein Auto vorbei und kehrt 20 Minuten später zurück. Kurz darauf ruft mir der Chef zu, alles sei erledigt.

Beim Auslesen und während der Probefahrt sei nichts festgestellt worden. Für ein Fahrzeug seiner Klasse und seines Baujahrs fahre der kleine Rote ganz normal. Das stimmt zwar nicht, aber da schon diese Überprüfung und eine neue Birne im Scheinwerfer mit einer dreistelligen - natürlich - Summe zu Buche schlagen, akzeptiere ich die Diagnose.

Allein schon auf der Fahrt vom Hof ruckelt mein Auto spür- und sichtbar. Dreimal.

Sonntag, 5. Mai 2024

In der Pandemie

Laufen fällt mir schwer. Eigentlich taumele ich eher von einer Seite zur anderen, indem ich mein Gewicht verlagere. Sprechen ist noch schwieriger. Wenn ich es versuche, kommen nur stöhnende Laute aus meinem Mund und manchmal sogar eine Art Fauchen.

Offenbar fällt das auch den anderen auf. Vor ein paar Tagen haben alle noch gesagt, wie gern sie mich haben. Und dass sie mich vermissen. Manche haben gejammert, ich solle doch wiederkommen.

Jetzt bin ich wieder da, aber alle schreien nur und laufen davon. Immerhin riechen sie lecker.

Die Karin

Ich dachte immer, die meisten Videos in dieser Richtung seien gescriptet... Aber gestern hatte ich meine erste Begegnung mit einer Karen. Oder heißen die bei uns Karin? jedenfalls fuhr ich in Kaffhausen den Berg hoch und durch eine Fahrbahnverengung, Der Beschilderung nach muss tatsächlich der von unten kommende Verkehrsteilnehmer warten, falls von oben jemand kommt. Das war allerdings nicht der Fall.

Mein Autochen hatte die einspurige Strecke schon fast hinter sich gebracht, als Karin mit ihrem alten Mercedes in Hornhautumbra sich dieser näherte - und stehenblieb. Offensichtlich dachte sie, Vorfahrt gewähren bedeutet, dass man die komplette Strecke rückwärts wieder runterfährt, wenn oben am Horizont jemand auftaucht. Sie brüllte unhörbar und gestikulierte wild, ihr gleichfalls betagter Beifahrer tat so, als gehe ihn das alles nichts an.

Natürlich blieb auch ich stehen - etwas anderes war gar nicht möglich. Also standen wir dort in der Abenddämmerung, quasi Stoßstange an Stoßstange. Der Pasodoblebär direkt am Ende der Verengung, Karins Benz kurz davor. So stur wie eine altersstarrsinnige Wachtel ohne Grundkenntnisse der StVO bin ich notfalls auch. Von hinten näherte sich ein weiteres Auto, dessen Fahrerin irgendwann ausstieg, um offenbar zu vermitteln.

Karin hatte Glück: Ich war auf dem Weg zu einem Termin, der mir deutlich unterhaltsamer schien als das Psychoduell mit einer Gift und Galle spuckenden Oma. Also ließ ich den Panda provozierend langsam wieder zurückrollen und machte unten gerade so viel Platz, dass Tantchens Vehikel vorbeifahren konnte. Die tobende Greisin kurbelte noch die Scheibe runter und brüllte etwas Unverständliches.

Grundsätzlich mag ich es nicht, wenn der Klügere nachgibt. Dadurch fühlen die Dümmeren sich als Sieger. Aber vielleicht sollte jeder mal eine Karin treffen. Auseinandersetzungen wegen banaler Dinge erden irgendwie. Und man übt sich in Gelassenheit.

Also auf Karin, die alte Vettel. Und allzeit gute Fahrt.