Montag, 25. September 2017

Blaue Boten

Ich denke das selten, aber manchmal denke ich es: Gut, dass der Alte das nicht mehr miterlebt. Mein Vater ist vor zehn Jahren gestorben. In der Zeit vor den Schmerzen und dem Krankenhaus hat er oft geflucht, mehr noch als gewohnt. Einmal im Monat stand er in der Parteizentrale der SPD in Marburg und drohte mit Parteiaustritt. Hartz IV? Brüllende Ungerechtigkeit, auf die man ebenso reagieren muss. Die Politik der ruhigen Hand? Unsinn - die Faust soll auf den Tisch krachen! Dass seine Partei in die Opposition geht, hätte den Alten hingegen gefreut. Endlich wieder klare Kante zeigen. Auf der anderen Seite stehen. Dagegen halten.

Was ihn nicht gefreut hätte, ist der Grund dafür, dass ich fast froh bin, ihn das nicht erleben zu sehen: Mit zwölf Prozent zieht die “rechtspopulistische” AfD in den Bundestag ein. Ich höre ihn noch lautstark schimpfen, wenn das Fernsehen mal wieder Bilder marschierender Nazis zeigte. Ein derartiger Wahlerfolg für deren dackelkrawattentragende Hintermänner hätte ihn komplett ausflippen lassen.
"Wir (haben) das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen." (Alexander Gauland)
Mein Vater war einer dieser Soldaten, und er war auf gar nichts stolz. Nicht darauf, weinend nach seiner eigentlich verhassten Mutter geschrien zu haben, als die ersten Kugeln um ihn herum einschlugen. Nicht darauf, den Rest seines Lebens den Splitter einer Granate im Knie zu haben, als bleibendes Andenken an den Zweiten Weltkrieg. Nicht darauf, im Lazarett als Gefangener der amerikanischen Streitkräfte davon erfahren zu haben, welches Grauen sich in seiner Heimat abspielte. Nicht darauf, die Menschen als “Feinde” bezeichnet zu haben, die ihm das Bein retteten. Nicht auf die Scham, als er nach Hause zurückkehrte, humpelnd, gebrochen, endlich erwachsen. Ein anderer Mensch.
"Ich will, dass Deutschland nicht nur eine tausendjährige Vergangenheit hat. Ich will, dass Deutschland auch eine tausendjährige Zukunft hat." (Björn Höcke)
In den knapp 80 Jahren seines Lebens hat mein Vater viel erlebt. Viele Jobs gehabt (von Werftarbeiter bis Eisverkäufer), viel gesehen, viele Fehler gemacht, viel dazu gelernt. Aber die tausend Jahre, die nur zwölf waren, gehörten auch in seinem Dasein zu den dunklen Flecken. Man versucht, sie zu vergessen, nicht daran zu denken. Und wenn die kahlgeschorenen Hohlschädel, schlimmer noch: die eloquenten Brüllaffen auftraten, ballte er die Faust in der Tasche. Die Faust, die auf den Tisch krachen sollte (was sie häufig auch tat), die Faust, die ihm oft Ärger eingebracht hat. “Ick kann det nich verstehn”, sagte er oft. “Det will ma nich in den Schädel, dass die det wiederhaben wolln. Ham die denn jar nischt jelernt?” Es war keine gute Zeit, für niemanden, und es war eben doch alles schlecht, daran hatte mein Vater - der Sozialdemokrat im Wortsinn - keinen Zweifel. So hat er es auch seinen Jungs beigebracht. Beschäftigt euch mit Geschichte, informiert euch, seid dagegen und seid laut, wenn es nötig ist. Für meinen Vater war das oft nötig.
"Zur Ultima Ratio gehört der Einsatz von Waffengewalt." (Frauke Petry)
Krieg ist keine Lösung. Waffen auch nicht. Das hat mich einer gelehrt, der in jungen und auch in späteren Jahren durchaus einen Hang dazu hatte, seine Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Seine Familie buchstäblich zu verteidigen. Auch mal jemanden am Kragen zu packen, wenn es für ihn der richtige Zeitpunkt war. (Und dieser Zeitpunkt war relativ schnell erreicht.) Aber Krieg, also Tod und Vernichtung für so etwas Abstraktes wie Grenzen oder “Völker”, das entsprach nie dem Wesen des Alten. Das war letztlich ungerecht, und Ungerechtigkeit hasste er. Für andere sterben? Völlig sinnlos. Für andere töten? Ein Verbrechen. Klar, dass ich den Dienst an der Waffe verweigerte habe und er mich darin unterstützt hat. Was sind schon Feinde? Menschen, die dir das Bein retten und dir die Wahrheit erzählen?
"Multikulti hat die Aufgabe, die Völker zu homogenisieren und damit religiös und kulturell auszulöschen." (Beatrix von Storch)
Seine letzten Jahre hat mein Vater meist im Krankenhaus verbracht. Das war oft schlimm, meist traurig und nur sehr selten eine Anekdote wert. Einmal berichtete er allerdings davon, dass seine Zimmergenossen nette Kerle seien. “Der eene bekommt imma Besuch von sein Kleenen, der andere von seine janze Familie.” So beschrieb der alte Haudegen die beiden, die mit ihm vorübergehend Unterkunft und eventuell auch Schicksal teilten. Manch anderer hätte vielleicht gesagt: Der eine ist Neger und der andere Türke. Dem Alten war das egal.
"Wenn man den ersten Schuss in die Luft abgibt, wird deutlich, dass wir entschlossen sind." (Marcus Pretzell)
Am Tag danach, nach einem langen, spannenden, traurigen Arbeitssonntag, habe ich Katerstimmung. Der Kopf tut weh, ich bin müde, überall zwickt und zieht es. Und ich bin auf die Füße gefallen. Schon gestern wusste ich, das Resignation keine Antwort ist. Ich habe charakterlich ziemlich viel von meinem Vater geerbt, nicht nur gute Eigenschaften. Aber auf eine davon bin ich ein bisschen stolz: Ich bin ganz schlecht im Aufgeben. War ich schon immer. Wir Demokraten müssen jetzt zusammenhalten. Ob Opposition oder wie auch immer gefärbte Regierung. Ob an der Spitze einer Partei oder ganz hinten in der letzten Reihe. Ob mit Parteibuch oder ohne. Ob auf der Straße, am Stammtisch, im Wohnzimmer, im Hörsaal, im Job oder in der Natur. Lasst uns bunt und laut sein, lasst uns reden, diskutieren, schreien und zuhören. Die werden unser Land nicht verändern. Wir sind nicht deren Volk.
"Wir werden sie jagen." (Alexander Gauland)
Wir werden nicht fliehen.



“Verinnerlicht ist das Gefühl
der Ohnmacht, wo man leben will.
So ausgegrenzt auf Lebenszeit
kocht leicht die Wut aus Bitterkeit.

Abgeschoben an den Rand,
im sogenannten Heimatland,
vergeht im Frust die Toleranz.
Ein andres Spiel beginnt!

Es ist soweit, ich fühle den Sturm,
schwarze Boten einer anderen Zeit,
junges Leben vom Alten bedrängt,
wird tabulos und zu allem bereit,
rituelle und brutale
schwarze Boten einer anderen Zeit.

Keine Lobby, hoffnungslos,
bespitzelt vom Politkoloss,
in solcher Überlebensnot
wird Gewalt der neue Gott.

Denken nur noch im Extrem,
behaupten oder untergehn,
kniend leben angepasst
- aufrecht und gehasst.

Horror ist fast jeder Tag,
es sitzt die Angst fest im Genick,
die Lüge vom "Schlaraffenland",
auch nur ein Taschenspielertrick.

Dem Größenwahn im Rausch der Macht
und ignorantem Herdenvieh
wird Feuer unterm Arsch gemacht,
ein Schock der Angst wie nie.“

Die Skeptiker: Schwarze Boten