Sonntag, 18. Juni 2017

Mein Dogma (VI)

Eigentlich ist so ein Blog ja dazu da, etwas Persönliches mit der Welt zu teilen. Etwas, von dem man glaubt, dass es eben diese Welt interessieren könnte. Ich schreibe hier über Musik und seltener darüber, wie ich manche Situationen im Leben sehe. Weil ich mir zumindest theoretisch vorstellen kann, dass irgendjemand Spaß daran hat, das zu lesen. Oder dass es jemanden vielleicht zum Nachdenken bringt. Irgendwie ganz schön vermessen. Meine Meinung ist für den Lauf der Dinge etwa so relevant wie die der meisten Leute: kein bisschen. Andererseits gehört etwas Selbstbewusstsein zum Bloggen dazu, und es schadet ja nie, das zu trainieren. Aber über mich selbst schreiben? Ist das nicht noch vermessener? Fast schon arrogant? Dabei fällt mir ein, warum ich andere Blogs lese - nämlich genau deshalb, weil mich das Persönliche - besser: die Persönlichkeit - ihrer Autoren interessiert. Und außerdem: Wer nicht will, muss ja nicht. Lesen. Oder sich Gedanken machen.

Hier geht's also zum ersten Mal um mich. Und da die besten Alben oft mit dem lautesten Song beginnen, fange ich diesen ungewohnten Seelenstriptease gleich mal mit einem Knall an:

Ich verstehe die Menschen nicht.

"Na und", werden viele nun denken, "wer tut das schon?" Aber ich meine das gar nicht global - es geht mir nicht darum, dass ich nicht nachvollziehen kann, wie Kriege entstehen oder weshalb jemand einen anderen wegen dessen Hautfarbe hasst. Sondern ich meine wirklich ganz genau das, was ich schreibe: Ich habe ein massives Problem damit, sämtliche Menschen, die ich treffe, zu verstehen. Das macht den Umgang mit ihnen verdammt schwierig, oft anstrengend, manchmal schmerzhaft.

Das heftigste Symptom: Ich bin extrem schlecht darin, Andeutungen wahrzunehmen. In der Kommunikation gibt es für mich keine Zwischentöne. Das bedeutet, häufig glaubt jemand, mir etwas mehr oder weniger subtil mitgeteilt zu haben, etwa durch sein Verhalten, aber nichts davon kommt bei mir an. Es ist mir bereits mehrmals passiert, dass jemand, von dem ich glaubte, ein gutes Verhältnis zu ihm zu haben oder gar befreundet mit ihm zu sein, aus heiterem Himmel explodierte oder sich schweigend zurückzog. Die Situation eskalierte, wo ich zuvor nicht mal mitbekommen habe, dass es ein Problem gab. Ich brauche einfach klare Ansagen. Jemand stört sich an etwas, das ich sage oder tue? Dann muss er es mir eindeutig mitteilen. Sonst nehme ich es einfach nicht wahr und kann schon allein deshalb nicht daran arbeiten, es zu ändern oder zu verbessern.

Keine Ahnung, wie autistisch das ist oder wie medizinisch relevant. Mir ist das erst vor wenigen Jahren bewusst geworden. Und zwar wegen oben geschilderter Auseinandersetzungen, aber auch deshalb, weil ich an mir selbst festgestellt habe, dass dieses Problem durchaus Folgen hat. Ich bin häufig misstrauisch, interpretiere (vermeintliche) Veränderungen falsch, mache mir oft unnötige Gedanken und kann nicht mehr so recht daran glauben, dass etwas gut endet oder auch nur bleibt. Irgendetwas ist schön oder angenehm? Das wird übel enden - bestimmt hat das Grauen längst Einzug gehalten, ich habe es nur mal wieder nicht mitgekriegt. Kommt mir bloß nicht mit Glück!

Ich bin ja ohnehin kein Zeitgenosse, dem andere bescheinigen würden, so weit wie möglich von Begriffen wie "verschroben" oder "speziell" entfernt zu sein. Aber wenn man durchs Leben stolpert und sich quasi permanent auf Feindesland wähnt, optimiert das nicht gerade den Eindruck, den man auf andere macht. Und leider ist es der zweite Eindruck. Beim Erstkontakt nehmen mich viele als durchaus sympathisch oder sogar charmant wahr (im Job eventuell eher als "willensstark"), aber der zweite und dritte Blick offenbart meist: Mit dem stimmt was nicht. Ich bin immer wieder erstaunt, dass es trotzdem Mitmenschen gibt, die gerne Zeit mit mir verbringen. Ich habe wenige, aber gute Freunde. Meine Vermutung ist, dass meine guten Eigenschaften mein seltsames Verhalten und die dahinter stattfindenden Gedankengänge ein wenig relativieren. Eine davon (und im Augenblick die einzige, die mir einfällt): Ich bin für Menschen, die mir am Herzen liegen, jederzeit da. Offenes Ohr, breite Schultern, helfende Hände - das alles gehört jedem, an dem mir etwas liegt, und zwar 24/7.

Trotzdem neige ich zum Einzelgängertum. Ich bin gern mit Menschen zusammen, die ich mag, aber neue kennen zu lernen, ist beispielsweise durchaus eine Herausforderung. Einsamkeit mag traurig machen, sie bietet jedoch auch Ruhe vor dem Chaos in Kopf und Herz, das die Konfrontation mit anderen Leuten mit sich bringt. Warum hat er eben so komisch geguckt? Weshalb tut sie das? Ob das eine Andeutung war? Verhält sie sich anders als sonst? Meint er das ernst oder ist das ein versteckter Hinweis? Mit diesen Eindrücken klar zu kommen, ist harte Arbeit. Sie leert den Akku, gerne auch nachts, wenn der vergangene Tag verarbeitet werden will.

Eventuell gehöre ich auf die Couch. Kann ja wirklich sein, dass all diese Unsicherheit ein Krankheitsbild darstellt. Für mich ist es mein Leben, zumindest ein relativ prägender Teil davon. Ich habe meinen Weg gefunden, damit einigermaßen umzugehen. Und ich kann nur auf Verständnis hoffen. Vielleicht auch von denen, die das hier lesen. Dann hat es nicht geschadet, sondern sogar einen Zweck erfüllt.