Neulich habe ich erfahren, dass es den Oberstadtflohmarkt noch gibt. Aber er sei mittlerweile sehr überschaubar und lohne kaum einen Besuch, sagte man mir. Schade. Früher war ja nicht nur manches besser, sondern auch einiges anders. Zum Beispiel war der Flohmarkt zwischen Heumarkt und dem unteren Ende des Steinwegs das "social event of the season", wie es in Kevin Smiths natürlich sehr empfehlenswertem Film "Clerks" über etwas ganz anderes heißt.
Seinerzeit ging es nicht nur um kaufen und verkaufen, sondern auch um sehen und gesehen werden. Zwischen Schatzkisten voller alter Bücher und Tapeziertischen mit lange gesuchtem Vinyl spielte einer Geige, ein anderer jonglierte, und man konnte sicher sein, jemanden zu treffen, mit dem man mindestens diesen ersten Samstag im Monat planen konnte. Einmal stand auch Thommes dort, spielte nicht Geige und jonglierte auch nicht, hatte aber einen großen Karton mit Band-Shirts dabei, dessen Inhalt er zu verkaufen suchte.
Thommes legte seinerzeit schon auf und wurde als nebenberuflicher DJ von Plattenfirmen gerne mal ein wenig verhätschelt. Diese hatte damals nämlich noch Geld, das sie mit dem Verkauf physischer Tonträger verdienten, und sie investierten es unter anderem in Werbeartikel wie Promo-CDs oder besagte T-Shirts ihrer Künstler. Thommes musste nicht lange auf Kundschaft warten. Eine kleine Frau mittleren Alters bot an, ihm den kompletten Karton abzukaufen, sofern er ihr einen guten Preis mache. Sie erklärte ihm sogar, was sie mit den Shirts vorhatte.
"Mein Mann arbeitet auf dem Bau", berichtete sie. "Und da schwitzt er immer so. Ich hab aber keinen Bock, ständig seine T-Shirts zu waschen. Und deswegen kaufe ich ihm jetzt einen ganzen Karton voll, die schmeißen wir dann einfach in den Müll, wenn sie durchgeschwitzt sind." Thommes ist grundsätzlich ein recht entspannter Mensch, aber das war ihm offenbar zuviel an verstörender Information. Fast verzweifelt nestelte er ein Tour-Shirt aus dem Berg, das anlässlich einer Spoken-Word-Reise von Henry Rollins hergestellt worden war. "Aber... das dann nicht, oder?", fragte er irritiert. "Doch – alle", antwortete die resolute Bauarbeiter-Gattin, lächelte und warf das Shirt zurück auf den Haufen.
Sie wurden sich handelseinig, und die Dame trug ihre Beute triumphierend vorbei an dem Jongleur und dem Geiger, den Bücherkisten und Plattentischen. Und so kam es, dass ein halbes Jahr lang ein Arbeiter auf irgendeiner Baustelle in Marburg jeden Tag ein anderes Band-Shirt trug: Fear Factory und Jamiroquai und Bad Religion und Henry Rollins. Es war eben nicht nur einiges anders, sondern auch manches besser. Auch der Oberstadtflohmarkt.
(Mehr zu Mr. Rollins findet sích übrigens hier.)