Dienstag, 24. Dezember 2024

An Heiligabend

"Ach ja - es ist Weihnachten", dachte ich, als ich durch die verschneiten und überaus kitschig dekorierten Straßen ging. Ich hatte mit diesem Fest nie viel am Hut, für mich war das ein Tag wie jeder andere. Ich habe keine Familie, die meisten meiner Freunde schon. Also ignorierte ich in der Regel, dass überall leuchtende Tannenbäume standen und belagerte Holzhütten, in denen Glühwein angeboten wurde.

Für den alten Mann an der Ecke war es vermutlich auch ein Tag wie jeder andere. Seit knapp einer Woche saß er dort auf seiner Decke, zunächst im Staub des Bürgersteigs, seit heute im Schnee. Er tat mir leid, aber ich hab's selbst nicht so dicke, also tat ich, was die meisten machten. Ich ging an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten.

Als ich den Kragen meiner Jacke hochzog, um wenigstens ein bisschen die Kälte abzuhalten, musste ich plötzlich daran denken, dass ein alter Mann, der im Freien übernachtet, sicher noch mehr fror als ich. Es war schon spät, die Läden machten gerade zu, auch Verkäufer haben Familien und Weihnachtsbäume. Keine Chance also, dem frierenden Kerl einen Kaffee und ein belegtes Brötchen zu kaufen. Ich ging zurück zu der Decke, auf der ich den Alten in der Dämmerung und dem Schnee kaum ausmachen konnte.

"Hier, Kumpel", sagte ich, nachdem ich ein paar Münzen aus der Hosentasche gekramt und ihm in die Hand gelegt hatte. "Ist nicht viel, aber mehr hab ich gerade nicht." Er sah zu mir hoch, seine Falten über dem weißen Vollbart verrieten, dass er trotz seines traurigen Daseins nicht selten lächelte. Auch jetzt zeigte er ein verschmitztes Grinsen, das nach Dankbarkeit aussah, nach Ehrlichkeit und seltsamerweise nach Güte. "Ich weiß", sagte er, "das macht dein Geschenk so wertvoll."

Woher wollte er wissen, dass mein Jahr nicht gerade das beste gewesen war? Naja, so ein alter Kauz hat sich bestimmt mit Glühwein aufgewärmt und ist ein bisschen senil. Ich nickte ihm zu, drehte mich um und stapfte auf dem inzwischen menschenleeren Fußweg durch den dreckigen Schnee. Plötzlich hörte ich etwas, eine Art Klingeln. Wie Glocken oder so. Als ich zurück zu dem alten Mann sah, war da nur noch seine schmutzige Decke.

Dann bemerkte ich, dass das Klingeln von oben zu kommen schien. Ich blickte hoch zum Himmel und was ich dort sah, würdet ihr mir ja doch nicht glauben. "Ach ja", dachte ich. "Es ist Weihnachten."

Samstag, 21. Dezember 2024

Wort zum Sonntag

In der besinnlichen Vorweihnachtszeit - konkreter: diese Woche - habe ich mal wieder etwas dazugelernt. Jeder Mensch hat ja ein gewisses Wertesystem, eigene Grenzen, eventuell auch (wörtlich) Vorurteile, unterschiedliche Erfahrungen und so weiter.

Und obwohl ich schon viele Winter erlebt habe, gibt es ganz offensichtlich noch immer Dinge, die ich in mein System nicht einordnen kann. Für die meine Lebenserfahrung nicht ausreicht, um sie zu begreifen.

Ich habe vor einigen Tagen von einem der unfassbarsten Verbrechen erfahren, von denen ich je gehört habe. Mein Wortschatz reicht nicht aus, um einerseits eine Frau zu ehren, die praktisch ihr komplettes Leben offenbart, um anderen Frauen Mut zu machen. Und andererseits meine Verachtung für Lebewesen auszudrücken, die jenseits von allem sind, wofür ich Abneigung empfinden kann. Die in mir Scham auslösen, derselben Spezies und demselben Geschlecht anzugehören.

Gestern Abend dann geschieht etwas, an das wir uns leider fast gewöhnt haben. Zunächst überrascht, dass der mutmaßliche Täter Arzt ist, sogar Psychiater. Heute dann erfahren wir, dass er nicht wie erwartet Islamist ist, sondern offenbar ein Rechtsextremist mit einem Faible für die größte faschistoide Partei der Republik. Offenbar ist das Leben doch komplexer als die strikte Schwarz-weiß-Aufteilung in sozialen Netzwerken. Offenbar haben wir vergessen, dass es Arschlöcher in allen Farben gibt.

Und dann noch ein Gedanke: Refugees welcome - ganz klar und erstmal ohne Einschränkung. Hunger ist so tödlich wie Krieg, niemand will sterben. Aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass wir als Gesellschaft und als politische Einheit es nicht hinkriegen, ein Zusammenleben aller Menschen zu gestalten. Und mit "wir" meine ich die Menschheit. Oder anders: Weder will ich in einem rassistischen, von Nazis regierten Land leben noch will ich mich unwohl fühlen, wenn ich abends durch die Straßen gehe. Schutzzäune um Veranstaltungen lösen genau so Beklemmung aus wie Springerstiefel- oder Leerdenker-Demos.

Ich hab's ja nicht so mit Weihnachten. Aber nächste Woche mal drei Tage darüber nachzudenken, was das große Wort Frieden wirklich bedeutet, ist vielleicht eine ganz gute Idee. (Sorry für mein Wort zum Sonntag.)