Donnerstag, 24. März 2022

Besuch von Oma

Eine wahre Geschichte: Da ich ein sogenannter Nachzügler bin (meine Eltern also quasi nicht mehr damit gerechnet hatten, nochmal Nachwuchs zu bekommen), habe ich meine Großeltern praktisch nicht kennengelernt. Ich weiß nicht, wie das ist, Omas und Opas zu haben. Sowas kenne ich nur aus Film und Fernsehen. Mit einer Ausnahme.

Die Ausnahme hieß Oma Elli und lebte in Ostberlin. Eingeweihte haben bereits die Geschichte ihres Ablebens gehört (Stichwort Aal), aber natürlich gibt es auch Anekdoten aus ihren Lebzeiten. Elli war - vorsichtig ausgedrückt - eine resolute Frau. Knapp 1,90 Meter groß, notorisch schlecht gelaunt und mit einem beeindruckenden Selbstbewusstsein gesegnet. Außer ihrer Meinung ließ sie keine andere gelten - und das mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, schließlich verfügte sie über die meiste Lebenserfahrung. Diese umfasste unter anderem ein umfangreiches Wissen darüber, was die körperliche Züchtigung ihres einzigen Sohnes anging. Und das wiederum war der Grund, warum mein Vater recht früh von zu Hause abgehauen war.

Dennoch kam es zu seltenen Begegnungen, denn der Mauer zum Trotz beehrte uns meine Großmutter alle paar Jahre mit ihrer unübersehbaren Anwesenheit. Eines dieser Familientreffen fand Ende der 70er Jahre "beim Griechen" statt. Seinerzeit war es durchaus etwas Besonderes, beim Essen außerhalb der eigenen Behausung ausnahmsweise nicht auf Schnitzel zu setzen, aber für unsere Matriarchin war meinen Eltern nichts zu teuer. Oma Elli bestellte natürlich als Erste und zwar für alle am Tisch, nämlich etwas, das sich "Dalmatiner-Platte" nannte. Es bestand im Prinzip aus Bergen von durchgegartem Fleisch, dekoriert mit etwas Gemüse. Gedacht war diese Grillplatte für mehrere Personen, die gute Elli ließ allerdings keinen Zweifel daran, das Gericht notfalls auch alleine verzehren zu können.

Nachdem es serviert wurde, rief meine Großmutter: "Ich suche mir zuerst aus, was ich esse." Danach befüllte sie ihren Teller mit etwa zwei Dritteln des Grillguts und krönte ihren kulinarischen Raubzug mit einem weiteren Ausruf: "Und die dicke Bohne und die Tomate gehören auch mir!"

Auf der "Dalmatiner-Platte" lagen weder eine Bohne noch eine Tomate. Allen am Tisch fiel Ellis Irrtum auf, die ungeachtet ihrer stets betonten Allgemeinbildung eine etwas gedrungene Peperoni und eine Chilischote, die eher Deko-Zwecken dienten, mit den genannten Zutaten verwechselt hatte. Mein ältester Bruder war auch mit Ende 20 schon jener gute Kerl, als den ich ihn noch heute schätze. "Das sind keine...", setzte er an. Wurde allerdings durch einen schmerzhaften Tritt unseres Vaters unterbrochen.

"Wenn die Oma die Bohne und die Tomate essen möchte", sagte dieser und lächelte freundlich, "dann soll die Oma die Bohne und die Tomate ruhig essen." Mein Bruder guckte irritiert, fügte sich aber dieser Feststellung. Elli schob sich also nacheinander die Fleischstücke in das, was mein Vater gerne als "Schlappmaul" bezeichnete. Und zum Schluss widmete sie sich genussvoll den vegetarischen Beilagen - naja, sie schob sie im Prinzip hinterher.

Erstaunlich, wie agil sich eine rund 120 Kilo schwere und über 80-jährige Hünin bewegen kann. Jedenfalls habe ich meine Oma nie zuvor und niemals danach so schnell laufen gesehen wie an diesem Abend. Und als sie von der Toilette zurückkehrte, hatte sie ganz glasige Augen. Auch die kannte ich von ihr gar nicht, waren ihr menschliche Emotionen doch weitgehend fremd.

Sie hat auch später noch gerne und immer ihren Willen durchgesetzt. Aber hätte es einige Jahre darauf Bohnen und Tomaten zum Aal gegeben, könnte ich eine meiner besten Geschichten heute nicht erzählen.