Dienstag, 26. Februar 2019

Herzensangelegenheiten

"Turn my seasons turn
Lived in much younger times
Left no life no more
For me to shine."
Mark Hollis: "Inside Looking Out" (1998)

Tausendfüßler, Eulen und ein Fuchs - was die Nacht verbirgt, will nicht gesehen werden. Und wer im Dunkeln eine Sonnenbrille trägt, will nicht sehen. Sunglasses at night. Ich liebte Musik, auch mit zwölf schon, und der einzige Weg, sie nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen, war "Formel Eins", jene heute zum Kult verklärte Musikvideosendung im Fernsehen. Einmal saß darin ein dünner, blasser Mann am Klavier, mitten im Wald, Haarsträhnen fielen im Rhythmus von Schlagzeug und Tasten über die schwarzen Gläser, die seine Augen verbargen. Und er sang verzweifelt darüber, dass das Leben sei, was man daraus mache.

Das klang so ganz anders als jene Popmusik, die ich seinerzeit in- und auswendig kannte. Das war trauriger als Depeche Mode, wütender noch als Killing Joke und viel mehr Kunst als Duran Duran. Da kämpfte jemand gegen die schlechten Dinge, die im Leben nun mal passieren. Gegen die Art, wie man ein Klavier normalerweise spielt. Und offenbar auch gegen sich selbst. Ich starrte auf Mark Hollis, weil der ein Licht angezündet hatte. Und ahnte schon damals, dass er es hasste, angestarrt zu werden.


Talk Talk war immer die Band für die etwas zu Cleveren, die nichts anderes hatten, als sich etwas darauf einzubilden. Klar - das waren Hits, die liefen im Radio und passten klanglich durchaus in ihr Jahrzehnt, das heute noch mehr verklärt wird als erwähnte Fernsehshow. Doch während Marian Gold alberne Lederhandschuhe trug und darüber sang, hoffentlich für immer jung zu sein, ging es in Hollis' Liedern um den Verfall. Während Cyndi Lauper verkündete, dass Mädchen einfach Spaß haben wollen, stellte er trotzig fest, dass das Leben sein Leben war und man das nicht vergessen sollte. Und während Corey Hart behauptete, nachts eine Sonnenbrille zu tragen, um das Licht sehen zu können, löschte Mark Hollis die Kerze. Sie hätte nur den Fuchs vertrieben, die Eulen und die Tausendfüßler.

"Spiele keine Note, bevor du nicht einen guten Grund dafür hast." Kluge Sätze wie diese sagte er in den Interviews, die für einen introvertierten Geist wie ihn eine Qual gewesen sein müssen. Es ist der Rhythmus seiner Songs, den ich bis heute verehre, die perfekte Tonspur dafür, noch ein bisschen weiterzumachen. Und es sind die Töne, die nicht gespielt werden. Das Dazwischen. Der Atem und die Atmosphäre. Das Leben, das der dünne, blasse Mann mit der verzweifelten, zweifelnden Stimme reinpumpte. Das war zunächst Pop, aber es war eben auch Kunst. Man durfte sich was drauf einbilden, nicht nur die Hits zu lieben, sondern die Alben.

Und irgendwann war es kein Pop mehr. Die Welt der glänzenden Oberflächen hatte Mark Hollis verloren, ihm selbst war sie von Anfang an egal gewesen. Jazz kam zu seinem Recht, auch Klassik, Avantgardistisches, immer öfter die Stille. Mit seinem einzigen Solowerk ging er nie auf Tour. Das wäre unmöglich gewesen, erklärte er damals in einem der nun sehr seltenen Interviews. Nicht auszudenken, hätte jemand vor der Bühne gehustet.

Dann verschwand er endgültig im Dunkel. Fans hielten sich tapfer auf dem Laufenden darüber, wenn er mal den einen oder anderen Ton oder das eine oder andere Schweigen zur Arbeit von Kollegen beisteuerte. Und trösteten sich damit, dass er nun wohl die Ruhe gefunden hatte, nach der er sich so sehnte. Nun ist Mark Hollis tot. Passenderweise war es zunächst nur ein unbestätigtes Gerücht, achtsam dahingetupft wie ein Tastendruck am Klavier. Dann wurde es ein lauterer Akkord, denn die Verlierer von früher, die Anhänger seit damals sind mehr als sie dachten. Und letztlich war es Gewissheit, fand die Musik ein Ende.

Am Schluss des Videos zu "Life's What You Make It" geht die Sonne auf, verjagen ihre sanften Strahlen den Nebel und den Tau und die Tiere der Nacht. Everything's all right. Ich erinnere mich sogar noch daran, was ich damals dachte, als ich ihn zum ersten Mal sah und hörte. "Der fühlt sich nicht wohl", dachte ich. "Der fühlt sich wie ich."


Mittwoch, 13. Februar 2019

Gemeinsam. Eine Kurzgeschichte.

Er öffnete die Augen. Das leise Summen vom Dach hatte ihn geweckt, vor allem aber die Stimme seiner Frau. Ihr Lachen. "Komm schon, Brummbär", rief sie ihm von der Tür aus zu. "Das Taxi wartet. Du wolltest dich doch nur kurz hinlegen." Er bereute nicht, die Augen geöffnet zu haben. In all den Jahren, die sie sich nun kannten, hatte Karen sich kaum verändert, war ihr Lächeln noch immer das Schönste, was er je gesehen hatte. An der Uni war es ihm zum ersten Mal aufgefallen. Und noch immer konnte er sein Glück kaum fassen, dass diese Frau nun seine Frau war. Die Jungs lachten manchmal darüber, dass auch 15 Jahre Ehe ihrer Verliebtheit nicht geschadet hatten. Nun jedoch warteten sie bereits im Flugtaxi auf dem Dach auf ihren Dad, den Brummbären - darauf, endlich zum Flughafen und in die Ferien starten zu können. Karen lachte noch einmal und ging dann ebenfalls die Treppe hinauf und dem Summen der Rotoren entgegen.

Er streckte sich und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, ehe er aufstand. Für Ende 40 hatte er sich gut gehalten. Seine Gesundheit war ihm wichtig. Er ernährte sich ausgewogen, trieb viel Sport. Man hatte nur ein Leben. Es war wertvoll. Niemand wusste das besser als er. Auf seine Fitness war er fast so stolz wie auf die anderen Ziele im Leben, die er erreicht hatte. Toller Job, tolles Haus, eine tolle Frau und zwei tolle Söhne. Glück, das er tatsächlich kaum fassen konnte. Obwohl es das war, was er am meisten wollte: das Glück fassen. Festhalten. Nicht mehr loslassen. Denn die Perfektion hatte kleine, kaum sichtbare Risse. Und durch diese fiel ein dunkler Schatten, der verhinderte, dass er wirklich glücklich war. Sein Herz, das für seine Familie schlug und für seine Arbeit als Physiker und für die Menschen, die er in seinem Leben getroffen hatte, war voller Furcht. Voller Angst davor, dass alles plötzlich vorbei sein konnte. Er zog sein Jackett an, die Schlafzimmertür hinter sich zu und betrat die Treppe zum Dach. Vor ihm lagen drei Wochen in Kalifornien, voller Sonne und Spaß. Er hoffte, endlich einmal vergessen zu können, was ihn belastete. Die Furcht in seinem Herzen. Auf der dritten Stufe hörte es plötzlich auf zu schlagen. Verflucht, dachte er, wenn es wenigstens ein Infarkt wäre.

Er ließ die Augen geschlossen. Das leise Summen des Weckers sollte ihn wachrütteln. Aber er war längst wach, kniff die Augen zusammen, um nicht sehen zu müssen, was um ihn herum war. Er kannte es ohnehin schon: sein Kinderzimmer. Die Raumschiff-Modelle, der Football in der Ecke, die Klamotten auf dem Boden, die verstimmte Gitarre, die unter seinen Füßen auf dem Bett lag. Er kannte jeden Winkel dieses Raums, weil er hier die ersten 16 Jahre seines Lebens verbracht hatte. Weil er hier jeden Morgen aufgewacht war. Und weil er einen Morgen in diesem Zimmer nun schon zum 38. Mal erlebte. Mühsam unterdrückte er die aufkommende Panik, riss schließlich die Augen auf, wie man ein Pflaster mit einem Ruck abreißt. Er langte mit einem Arm rüber zum Wecker und drückte auf die Taste, um das Summen verstummen zu lassen. Mit seinem Arm. Dem eines 16-jährigen Jungen, mager statt trainiert, kaum behaart und mit einem albernen Schweißband versehen. Den Blick in den Spiegel vermied er, als er sich aus dem Bett wälzte. Er wusste, wie er aussah. Wieder aussah. Er kannte die hagere Figur eines blassen Teenagers, der zu viel Zeit damit verbrachte, im dunklen Zimmer auf der Gitarre zu klimpern. Und zu wenig damit, Football zu spielen, Sport zu treiben, zu lernen, etwas aus seinem Leben zu machen. Naja, dachte er verbittert, ein neuer Morgen, eine neue Chance. Dann schoss ein schmerzhafter Blitz durch sein Herz, sein kaputtes Herz, eigentlich ein unerfahrenes Herz, das eines Teenagers und eines Mannes. Sein Herz, das seine Frau vermisste und die Kinder, sein altes Leben, das streng genommen nun wieder sein zukünftiges war. Eine mögliche Zukunft, das hatte er während des Studiums verstanden. Eine, die es so vermutlich gar nicht geben würde. Der Flügelschlag eines Schmetterlings vor dem geschlossenen Fenster konnte verhindern, dass er Karen je traf. Dass seine Söhne jemals geboren wurden. Und selbst wenn - wie lange würde er diesmal fast glücklich sein?

Er kniff die Augen zusammen, als nach Angst und Schmerz nun Wut in seinem Herzen wuchs. Mit knochigen Teenie-Fingern griff er zum Handy, das ihm merkwürdig altertümlich vorkam. Statt die Nummer zu sagen, die er so gut kannte, musste er sie mühsam eintippen. Und statt eines Hologramms spuckte es lediglich eine nur zu vertraute Stimme aus. Eine verhasste Stimme. Die Stimme seines besten Freundes seit Kindertagen. "Hast lang nichts von dir hören lassen", sagte sie. Und dann lachte Ben, sein Kumpel, sein Leidensgenosse. Und er hasste es noch mehr als er Karens Lachen geliebt hatte. "Wir müssen uns sehen, Arschloch", hörte er sich sagen, mit dieser längst vergessenen Teenager-Stimme. "In einer halben Stunde."

Er blinzelte in die Sonne. Ben war natürlich unpünktlich. Er war ohnehin das genaue Gegenteil von ihm selbst: egoistisch, draufgängerisch, manchmal skrupellos. Dazu kräftig und mit einem übergroßen Selbstbewusstsein ausgestattet. Einzig intellektuell waren die beiden ungleichen Freunde sich ebenbürtig. Während er jedoch zumindest theoretisch die Möglichkeit gehabt hätte, einen guten Schulabschluss zu machen und die Uni zu besuchen, schlug sich der ein Jahr ältere Ben mit Gelegenheitsjobs durch, von denen die meisten illegal waren. Zwar erzählte er allen, die es hören wollten oder auch nicht, dass er nie wie sein verhasster Vater, ein Säufer und Schläger, im Knast enden wollte. Dennoch war er auf dem besten Weg dahin. Und das ist keine mögliche Zukunft, sondern beschlossene Sache, dachte er zynisch, als Ben sein Fahrrad auf den Boden fallen ließ und sich grinsend näherte. Warum die beiden Freunde geworden waren? Vermutlich, weil ein erfolgloser Gitarrist ohne Band froh darüber ist, wenn ein kleiner Ganove etwas Abwechslung in seinen tristen Alltag bringt. Und weil Außenseiter am besten zusammen durchs Leben gehen sollten. Gemeinsam.

Er riss die Augen auf, als er Ben anschrie: "Du verdammter Wichser! Was hast du getan?!" Sein Kumpel grinste freudlos: "Sachte, Mann. Glaubst du, ich bin gerne hier?" Er hockte sich auf einen Stein und zündete eine selbst gedrehte Zigarette an. "Ein kleines Geschäft ist schiefgelaufen, jemand wurde nervös und - bäng! Alles auf null. Spiel dich bloß nicht auf - du warst oft genug schuld daran dass es mir so ging." Während Ben selbstgefällig an der Kippe zog, dachte er an jenen Tag vor fast 40 Jahren, der eigentlich gestern war. Als er und Ben diesen seltsamen grünen Stein entdeckt hatten, unten bei der alten Mühle. Als sie ihn berührt hatten, als er geleuchtet hatte. Und er dachte daran, wie er seitdem immer und immer und immer wieder in seinem Zimmer aufgewacht war, wie der Wecker summte und den ewig gleichen Tag ankündigte. Nach dem Unfall mit dem Truck. Nach dem Sturz in den Steinbruch. Nach dem Streit mit den Jugendlichen, von denen einer ein Messer hatte. Nach dem völlig verblödeten Versuch, unbewaffnet eine Bank auszurauben. Und nach anderen noch blöderen Ideen von Ben. Irgendwann hatten sie festgestellt, dass sie nicht nur das gleiche Schicksal teilten, sondern dass der leuchtende Stein - der seltsamerweise verschwunden war - auch dafür sorgte, dass ihre Leben für immer und ewig aneinander gekettet waren. Starb Ben, starb auch er - und wachte wieder an jenem quälenden Morgen auf. Und für Ben galt dasselbe. Dann, nach Tränen und Wut und Verzweiflung und Leichtsinn und Akzeptanz war ihnen der Gedanke gekommen, sich zu trennen. Tatsächlich schien das zu funktionieren. Einmal schafften sie fast vier Jahre. Und zuletzt beinahe 33. Bis Ben "ein kleines Geschäft" vermasselt hatte.

Er schloss die Augen, seufzte und sagte leise: "Ich hasse dich so sehr." Ben lachte noch einmal freudlos und antwortete: "Dito." Dann klopfte er sich hörbar den Staub der Landstraße von der Jeans. "Aber ich habe eine Idee. Die wird dir gefallen. Mir gefällt sie." Er öffnete ein Auge: "Deine Ideen hasse ich auch." "Hör doch erstmal zu", meinte Ben, die Zigarette im Mundwinkel. "Diese holt uns hier raus. Endgültig." "Glaubst du nicht, wenn es einen Weg aus diesem Alptraum gäbe, hätte ich ihn gefunden?", fragte er, öffnete auch das andere Auge und wischte eine Träne weg. "Ich bin Doktor der Physik, verdammt! Ich habe was aus meinem Leben gemacht... Meine Familie fehlt mir, du verfluchter Penner!" "Du bist ein 16-jähriger Junge", erinnerte Ben ihn mit kalter Stimme. "Schon klar - du hast brav gelernt und studiert und Kohle gescheffelt und die große Liebe kennen gelernt." Er schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch und verkündete: "Aber ich war auch nicht untätig. Ich habe mir alles in die Nase und die Venen gejagt, das ich finden konnte. Und ich hab alles gevögelt, was sich bewegt hat. Und ob du es glaubst oder nicht: Manchmal habe ich sogar ein Buch gelesen." "Halt die Klappe", sagte er resigniert, "halt endlich deine große Klappe." "Hast du", fuhr Ben ungerührt fort, "mal von Yin und Yang gehört? Die Schlitzaugen glauben diesen Quatsch. Die beiden sind fast wie wir: total unterschiedliche Seiten derselben Medaille. Du bist der nette Kerl, ich bin das verdammte Arschloch, und wir beide hängen gemeinsam in dieser Scheiße und kommen auch nur gemeinsam wieder raus." Er dachte an Karen, an ihr Lachen, das er nie wieder hören würde. Gemeinsam. Allein das Wort klang wie eine Drohung. "Ich verspreche dir nicht, dass all deine Träume wahr werden", hörte er Ben weiter schwadronieren. "Ich bin wie gesagt nicht der Nette von uns beiden. Aber ich verspreche dir einen souveränen Abgang. Und ein Ende dieses - wie hast du gesagt? Dieses Alptraums." Langsam verstand er, worauf Ben hinauswollte: Das Ende würde das Erwachen sein. Nur dass diesmal nicht der ewig gleiche Tag folgen würde, sondern... nichts. Zumindest hatte sein Physikstudium ihn das gelehrt. "Was hast du bloß vor?", fragte er. Ben antwortete, nachdem er den Zigarettenstummel an der Sohle seines Stiefels ausgedrückt hatte: "Wir bringen uns gegenseitig um. Wir sterben gemeinsam. Zum letzten Mal."

Er zwinkerte, hörte seinen eigenen Herzschlag, sah Karens Lächeln vor sich. "Und wie soll das gehen?" Seine fremde Teenie-Stimme klang seltsam tonlos. "Hiermit", knurrte Ben und zog zwei Revolver aus den Taschen seiner Lederjacke. Schwarzes Leder, schwarzes Metall. Und hoffentlich eine schwarze Zukunft. Kein Summen mehr. Zögernd nahm er eine der schweren Schusswaffen. Er wusste, wie man sie benutzte. Zweimal hatte er versucht, mit so etwas seinem Leben ein Ende zu setzen. Das Ergebnis: der Wecker, das Summen, Raumschiff-Modelle, Football, Gitarre. "Der Trick ist", erklärte Ben, "dass wir gleichzeitig abdrücken. Bist du bereit? Auf drei. Oder hast du noch irgendwelche letzten Worte zum Abschied für deinen alten Kumpel?" "Ich hasse dich", sagte er, nun mit festerer Stimme. "Ich wünschte, wir wären tot." Sie stellten sich drei Meter voneinander auf und sahen sich in die Augen, der schüchterne Schlacks und der stämmige Gauner. Ben zählte: "Eins. Zwei. Drei!" Es knallte, eigentlich zweimal, aber es klang wie einmal. Es roch nach Rauch. Dann vertrieb ein blutroter Stich die Angst und den Schmerz und die Wut aus seinem Herzen. Es hörte auf zu schlagen. Gemeinsam, dachte er. Und schloss die Augen.