Meine Stimme ist verschwunden. Das ist
ziemlich schade, denn eigentlich mochte ich sie ganz gerne. Daher habe
ich sie sehr häufig benutzt, privat und beruflich.
Ich
habe damit meinen Standpunkt vertreten, meist recht leise, seltener
laut, aber immer deutlich. Ich habe damit geflüstert und geschrien, Lob
und Kritik verteilt, flammende Reden gehalten und lustige Gedichte
rezitiert, kleine Lebensweisheiten verkündet und große Gefühle
gestanden.
Und nun ist sie fort. Das Verschwinden meiner
Stimme kündigte sich bereits vor einiger Zeit an, als sie ihren
gewohnten Klang veränderte. Plötzlich hörte sie sich ein wenig so an wie
die von Tom Waits. Anders als der Mann mit dem schiefen Hut habe ich
meine Stimme allerdings niemals zum Singen benutzt - oder allenfalls
unter Androhung massiver körperlicher Gewalt beziehungsweise einer noch
schlechteren Note im Schulfach Musik.
Wer mich zum Gesang
nötigte, bereute seine Entscheidung meist nach wenigen Sekunden. Mit
meiner Stimme lassen sich aller Textsicherheit zum Trotz ganze
Konzerthallen leeren. Das weiß ich, ohne es jemals ausprobiert zu haben.
Mein Autoradio und meine Dusche könnten ein Lied davon singen, wenn sie
singen könnten. Aber natürlich können sie nicht einmal sprechen. Genau
wie ich.
Allerdings gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass
meine Stimme bald wieder da ist. Obwohl ich sie seit meinem 18.
Lebensjahr mehrmals jemandem gegeben habe, ist sie nämlich immer
zurückgekehrt. Übrigens ohne Konsequenzen für mein Leben, welcher Art
auch immer.
Wenn ich meine Stimme wiederhabe, werde ich
mir überlegen, ob ich sie in Zukunft weniger schone. Ich könnte endlich
mit dem Aktivrauchen anfangen oder mit dem Konsum von Spirituosen oder
damit, mir morgens Rasierklingen unter die Cornflakes zu mischen. Dann
steht einer Gesangskarriere nichts mehr im Wege, was in Zeiten des
wirtschaftlichen Abschwungs als zweites Standbein durchaus sinnvoll sein
kann. (Meine Unwörter des Jahres: "Abschwung" und "Standbein".)
Einzige
Bedingung: Meine Stimme kommt nicht allein, sondern bringt ein wenig
Genie mit. Das braucht es nämlich auch, wie das Beispiel Tom Waits
beweist. Dies ist jedoch eher unwahrscheinlich, daher bleibt's wohl beim
Sprechen.
Aber schweigen - das sei hiermit zumindest schriftlich verkündet - werde ich so schnell nicht.